Wenn ein Journalist eine fixe Idee im Kopf hat und krampfhaft nach Hinweisen sucht, um seine möglicherweise ziemlich abstruse These zu stützen, dann spricht man von Thesenjournalismus. Das Genre ist weit verbreitet, aber auch verpönt. Wie ist es aber mit einem Wissenschaftler, der eine fixe Idee im Kopf hat und mit allen Mitteln versucht, seine (möglicherweise ebenfalls ziemlich abstruse) These zu beweisen? Wie nennt man solche Forschung? Ist das Thesenwissenschaft?
Leider ist diese – eigentlich zutiefst unwissenschaftliche – Form weit verbreitet. Anstatt zu versuchen, Hypothesen unvoreingenommen zu prüfen und entweder zu verifizieren oder falsifizieren – wie das eigentlich «lege artis» wäre in der Wissenschaft –, versuchen Forscher oft, mit teilweise bemerkenswerten statistischen Verrenkungen nur die eigenen Hypothesen zu belegen. Man nennt das auch «confirmation bias». Frei nach dem Motto: Eine Idee, die man im Kopf hat, die muss doch einfach stimmen!
Ein Extrembeispiel für einen Thesenwissenschaftler ist Gilles-Eric Séralini. Der Molekularbiologe der Universität Caen ist ein überzeugter, ja missionarischer Gentechgegner, der seit Jahren zu beweisen versucht, dass gentechnisch veränderte Pflanzen des Teufels sind. Er ist auch Präsident der von ihm mit gegründeten gentechkritischen Nonprofit-Organisation CRII-GEN (Comité de recherche et d’information indépendantes sur le génie génétique).
Letzte Woche nun schienen seine jahrelangen Bemühungen endlich zu fruchten. Eine Studie, die Séralini und sein Team in der wenig beachteten (Impact Factor: 3), aber immerhin peer-reviewten Fachzeitschrift «Food and Chemical Toxicology» publiziert hatten, schlug medial ein wie eine Bombe. Denn die Forscher kamen darin zum Schluss, dass gentechnisch veränderter Mais Ratten früher sterben lässt und zu einer höheren Krebsrate führt. Und wie, um ihre Aussage zu bekräftigen, illustrierten die französischen Forscher die Studie mit abstossenden Bildern von Ratten, die an riesigen Tumoren leiden. Da war er endlich, der Beweis!
Und ein gefundenes Fressen für die Medien. «Gentechmais führt zu höherer Krebsrate», titelte Newsnet/Tagesanzeiger, «Genmais lässt Ratten früher sterben», hiess es bei www.sf.tv (beide Texte basierten auf einer SDA-Meldung), und «EU-Kommission alarmiert – Studie: Ratten werden nach Genmais-Futter krank», schrieb das deutsche Magazin Focus. Der Tenor war klar: eine alarmierende Studie!
Solche Schlagzeilen haben zwei Vorteile: Erstens lassen sie sich gut verkaufen. Und zweitens kann man sich als Journalist die Mühe ersparen, die Studie kritisch zu hinterfragen und ihr allenfalls gar die Luft rauszulassen. Denn wer sich ein bisschen im Internet umgeschaut hat, hat schnell gemerkt, dass Experten aus verschiedensten Fachrichtungen und Lagern die französische Untersuchung heftig kritisierten. Die Webseite www.sciencemediacentre.org zum Beispiel stellte eine ganze Reihe skeptischer Einschätzungen britischer Wissenschaftler ins Netz.
Eines ist mittlerweile klar. Die Veröffentlichung der Rattenstudie war allenfalls medial eine Bombe, wissenschaftlich ist sie wohl ein «Rohrkrepierer», wie «Le Temps» schön titelte. Als eines von wenigen Newsportalen in der Schweiz hinterfragte die welsche Tageszeitung die Studie mit der nötigen Portion Skepsis. (In der SonntagsZeitung stand natürlich ebenfalls ein kritischer Bericht.)
Im Fokus der Kritik steht die statistische Auswertung. Die Methoden seien nicht gebräuchlich, unkonventionell, sagte etwa Tom Sanders vom King›s College in London auf www.sciencemediacentre.org. Andere Experten sprechen von «statistischem Fischen» oder gar von «Fantasie-Statistik».
Um diese Kritik zu verstehen, muss man die Versuchsanordnung etwas genauer anschauen. Séralini und sein Team testeten insgesamt 200 Ratten, die sie in 20 Gruppen aufteilten. Je 10 Männchen und Weibchen erhielten eine tiefe (11 Prozent), eine mittlere (22 Prozent) und eine hohe (33 Prozent) Menge an herbizidresistentem Gentechmais (NK603) im Futter, wiederum je 10 Tiere erhielten die drei NK603-Dosen plus das Herbizid Roundup (gegen das die Maispflanzen resistent sind), und weitere je 10 Ratten erhielten nur das Herbizid im Wasser (in drei Dosen). Blieben je 10 Männchen und Weibchen, die als Kontrollgruppe mit «normalem» Futter ernährt wurden. Anders als in solchen Studien üblich (drei Monate), dauerte die französische Untersuchung Forscher zwei Jahre lang – also ein ganzes Rattenleben.
Vergleicht man nun die einzelnen Kleingruppen, zeigen sich in der Tat Unterschiede bezüglich Krebs und frühzeitigem Tod. In einigen Testgruppen erkrankten die Tiere häufiger (vor allem die Weibchen) und starben früher als in den beiden Kontrollgruppen, in anderen Testgruppen aber waren die behandelten Tiere gesünder als die Kontrolltiere. Selbstredend, dass Séralini & Co. letzteres nicht an die grosse Glocke hängen, sondern in ihrer kaum durchblickbaren statistischen Auswertung verschwinden liessen.
Das heisst: Wahrscheinlich handelt es sich bei den gefundenen Zahlen um zufällige Variationen. Denn die beiden Kontrollgruppen mit nur je zehn Tieren sind schlicht zu klein, um gesicherte Aussagen zu machen. Normalerweise setzen Forscher in der Kontrollgruppe gleich viele Tiere ein wie in der Testgruppe. Kommt dazu, dass der benutzte Rattenstamm (Sprague Dawley) von Natur aus äusserst krebsanfällig ist. Auch von den 20 Kontrolltieren entwickelten fünf Tumoren (drei Männchen, zwei Weibchen). Es könnte auch sein (aber das ist reine Spekulation), dass die französischen Forscher bewusst Resultate herausgepickt haben, die zu ihrer Hypothese passen oder dass sie gar absichtlich zwei Kontrollgruppen von je 10 Tieren mit relativ gesunden Ratten ausgewählt hatten.
Ein weiterer Kritikpunkt: Die Studienautoren fanden keine Dosis-Wirkungskurve. In fast allen toxikologischen Studien geht man aber davon aus, dass mit zunehmender Dosis – hier die Menge Gentechmais oder Herbizide – mehr Tiere gesundheitliche Probleme kriegen. Doch dem war nicht so. So starben Männchen mit der höchsten und zweithöchsten Dosis Genmais sogar später als die Kontrolltiere.
Séralini erklärt das ungewöhnliche Ergebnis mit einem «Schwellen-Effekt», dass also schon die geringste Dosis Genmais, Genmais plus Pflanzengift oder Herbizid krank macht, indem es die hormonelle Balance stört. Klingt gut, ist aber reine Spekulation und mit keinerlei Daten hinterlegt. Kommt dazu, dass aus der Studie nicht ersichtlich wird, ob nun das Herbizid gefährlich sein soll oder der NK603-Mais oder der gespritzte Mais.
Angesichts der Brisanz der Resultate stellen sich aber auch ganz grundsätzliche Fragen: Warum haben hunderte von früheren Studien keine Effekte gefunden? Warum sterben Millionen von Menschen, die seit fast 20 Jahren Genfood essen, nicht wie die Fliegen weg, wie ein australischer Forscher in verschiedenen Medien anmerktte? Die Menschen werden sogar immer älter. Und warum merkt man in den Ställen all den Schweinen und Rindern nichts an, die milliardenfach täglich mit Gentechmais oder -soja gefüttert werden? Soll eine einzelne Studie diese Erfahrungswerte nun auf den Kopf stellen?
In der Forschung gibt es eine Regel, die besagt: Ausserordentliche Behauptungen brauchen ausserordentliche Beweise. Davon ist Séralinis Paper meilenweit entfernt. Können die Resultate der Caen-Forscher nicht repliziert werden, sind sie nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Der New York-Times Wissenschaftsjournalist und Blogger Andrew Revkin spricht vom «Ein-Studien-Syndrom». Er bezeichnet damit Einzelstudien, die von Aktivistengruppen wie den Gentechgegnern missbraucht werden, um ihre Agenda zu «pushen», egal wie dünn oder zweifelhaft die Datenlage ist.
Revkin bringt uns auch wieder zurück zum Wissenschaftsjournalismus. Es wäre toll, wenn solch intelligenten Analysen auch hierzulande zu Debatte beitragen würden. (Vielleicht schafft das ja in Zukunft diese Webseite.) Die Realität sieht leider ein wenig anders aus. In der Schweiz gibt es nicht allzu viele Redaktionen, die Journalisten beschäftigen, welche dank ihrem wissenschaftlichen Knowhow erkennen, wenn ein Forscher «Thesenwissenschaft» betreibt oder wenn eine Studie nicht ganz koscher ist oder sogar zum Himmel stinkt. Leider halten es weder die SDA noch die führenden Online-Portale für nötig, dieses Knowhow auf ihre Redaktion zu holen. Und so wird im (digitalen) Blätterwald auch künftig noch manche Bombe platzen – auch wenn sie eigentlich ein Rohrkrepierer ist.
geschrieben: 24.9.2012