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Zuviel Körperhygiene schadet der Haut

Mit Seifen, Shampoos und Deos killen wir täglich Milliarden nützlicher Hautbakterien – Forscher tüfteln an probiotischen Sprays, die das Mikroben-Gleichgewicht wieder herstellen sollen.

Auf unserer Haut leben verschiedenste Bakterien (Bouslimani et al., PNAS 112 (17))

Auf unserer Haut leben verschiedenste Bakterien (Bouslimani et al., PNAS 112 (17))

Hände waschen. Haare shampoonieren. Sich einseifen beim Duschen. Ein Deo auftragen. All diese Hygienepraktiken sind heute so selbstverständlich, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sich unsere Vorfahren noch bis vor 150 Jahren kaum wuschen, nie duschten, dafür kräftig stanken, weil sie Deos, Seife und andere Hautpflegemittel nicht kannten. Es war definitiv keine Zeit für feine Näschen.

Das alles änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um 1850 forderte der ungarische Arzt Ignaz Semmelweis als Erster das medizinische Personal auf, die Hände regelmässig zu waschen. Etwas später entdeckte der französische Chemiker Louis Pasteur den Zusammenhang zwischen bakteriellen Keimen und Krankheiten. Diese und weitere Errungenschaften begründeten die so segensreiche Hygienerevolution. Dank ihr sind wir heute viel gesünder, wir leben deutlich länger und profitieren dabei erst noch von einer markant höheren Lebensqualität.

Deshalb möchte heute auch niemand mehr auf moderne Körperhygienepraktiken verzichten. Und doch gibt es Stimmen, die darin nicht nur die positiven Seiten sehen und vor einem überbordenden Sauberkeitswahn warnen. Denn ein Aspekt der modernen Körperhygiene geht gern vergessen: Mit den Seifen, Lotionen, Shampoos und Deos killen wir Tag für Tag auch Milliarden von Bakterien, die unsere Haut besiedeln. Bakterien notabene, die schon Hunderttausende von Jahren mit uns leben, die uns zum allergrössten Teil gut gesinnt sind, die zur Hautgesundheit beitragen und die uns sogar bei der Abwehr von gefährlichen Keimen an vorderster Front unterstützen.

Vor 150 Jahren gab es kaum Akne oder Hautallergien

«Die Haut ist das grösste Organ des Körpers», sagt der Biotechunternehmer Jamie Heywood aus Boston. Laut dem Direktor von AObiome, einer auf Hautbakterien spezialisierten Firma, reguliert sie den Stickstoff- und Sauerstoffhaushalt, die periphere Blutversorgung sowie die Aktivierung des Immunsystems. Das Problem dabei: «Wir bombardieren die Haut seit 1870 mit Chemie», sagt Heywood. «Alle kommerziellen Hautprodukte sind voll von Konservierungsstoffen.»

Das Ökosystem Haut – dazu zählen neben unzähligen Bakterien auch Viren, Pilze und winzige Milben – ist noch weitgehend Terra incognita. Erst in den letzten etwa zehn Jahren haben Biologen begonnen, sich für das «Mikrobiom» der Haut zu interessieren. Dabei mussten die Forscher feststellen, dass die Hautflora aus einer riesigen Vielfalt an Bakterien zusammengesetzt ist und dass sich diese Zusammensetzung nicht nur zwischen einzelnen Körperpartien massiv unterscheidet, sondern auch von Mensch zu Mensch.

Rund eine Billion Bakterien leben ständig auf oder in der Haut, schätzen Experten. Die allermeisten davon harmonieren bestens mit dem Menschen, ja, sie schützen uns sogar vor Angriffen von krankmachenden und schädlichen Erregern. Dabei arbeiten diese Symbionten auch mit unserem Immunsystem zusammen. Mikroben findet man überall auf der Haut, besonders viele an talgigen und feuchten Stellen wie den Fingerzwischenräumen, Kniekehlen oder Ohrfältchen.

Wie jedes Ökosystem ist auch das Mikrobiom der Haut anfällig auf Störungen. Prinzipiell gilt das Gleiche wie bei der Darmflora: je vielfältiger und stabiler die Zusammensetzung, desto gesünder. Mit der täglichen Dusche, vor allem aber mit all den Seifen, Shampoos, Deos und Cremen bringen wir dieses Gleichgewicht durcheinander. «Beim Duschen nur mit Wasser verlieren wir jeweils etwa 30 bis 40 Prozent unserer Hautflora», schätzt Heywood. Mit Seife müssen wohl noch viel mehr Mikroben dran glauben. «Unsere Haut wurde von der Evolution nicht darauf hin konzipiert, dass sie jeden Tag mit 37 Grad warmem Wasser gewaschen wird.»

Das hat Folgen: Zwar leben wir heute generell viel gesünder als vor 150 Jahren, dafür gab es bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch kaum Hautkrankheiten: keine Akne, kaum Allergien, keine Neurodermitis. Alle diese Hautleiden haben möglicherweise damit zu tun, dass das Gleichgewicht der menschlichen Hautflora wegen der exzessiven Körperhygiene massiv gestört ist und dass schädliche Bakterien, die an diesen Krankheiten mitbeteiligt sind, so ein leichtes Spiel haben.

Dass die Balance der Hautmikroben nicht mehr stimmt, darauf deutet auch ein Befund von Heywoods Aobiome hin. Die Firma, und allen voran ihr wissenschaftlicher Leiter David Whitlock, ist überzeugt, dass dem modernen Menschen heute sogenannte ammoniakoxidierende Bakterien (AOB) fehlen. Diese finden sich sonst überall, wo es Ammoniak gibt, etwa im Wasser oder im Boden – ausser eben auf der menschlichen Haut.

Das war vor der Hygienerevolution wohl anders, wie eine Studie mit der indigenen Volksgruppe der Yanomami im Amazonasgebiet zeigt: Alle Yanomami haben AOB auf ihrer Haut, in westlichen Kulturen findet man die Bakterien aber bei weniger als einem Prozent der Menschen.

AOB erfüllen laut Heywood auf der Haut eine wichtige Funktion: Sie wandeln Ammoniak (aus Schweiss oder Urin) um in Nitrit und Stickstoffmonoxid (NO). Diese Substanzen wirken anti-entzündlich. Die AOB senken zudem den pH-Wert (die Haut wird saurer) und können so schädliche Bakterien bekämpfen.

Spray mit lebenden Bakterien hat eingeschlagen

Letztes Jahr lancierte Aobiome unter dem passenden Namen «Mother Dirt» («Mutter Dreck») eine hautfreundliche Produktelinie, allem voran ein Spray mit lebenden ammoniakoxidierenden Bakterien. Ohne viel Werbung, aber mit guter Presse, haben die Produkte laut Heywood eingeschlagen. Man habe schon über 9000 Kunden, die sich täglich mit den Bakterien besprühen und sich dafür weniger waschen. In einer kleinen Studie konnte Aobiome zeigen, dass sich das Aussehen der Haut verbessere und sich die Haut besser anfühle. Zudem hätten sie Fallberichte von über hundert Kunden, die ein Leben lang Hautprobleme hatten, welche mit dem Spray dann verschwunden seien. «Diese Befunde sind aber statistisch nicht gesichert», gibt Heywood zu.

Aobiome ist derweil nicht die einzige Firma, die sich eine bessere Balance der Hautflora auf die Fahnen geschrieben hat. In Magdeburg tüftelt die Firma S-Biomedic an einer komplexen Mischung von Bakterien, die ebenfalls das Ungleichgewicht auf der Haut beheben soll. Laut CEO Bernhard Paetzold will S-Biomedic ihr Produkt noch dieses Jahr an Menschen testen und klinisch validieren – und möglichst bald auf den Markt bringen. Auch der Kosmetikkonzern L’Oréal arbeite intensiv an sogenannt probiotischen Hautprodukten (mit nützlichen Bakterien, analog zu probiotischen Joghurts), sagt Paetzold. In den nächsten Jahren könnten Hautprobiotika demnach ein grosses Geschäft werden.

Forschergruppe aus Genf sucht ein natürliches Deo

Firmen wie Aobiome und S-Biomedic geht es aber nicht primär um Hautkosmetik, sondern vielmehr um die Behandlung von Hautleiden wie Akne. Die bisherigen (noch unpublizierten) Ergebnisse einer ersten Aknestudie von Aobiome überzeugen allerdings nicht, auch wenn Heywood sagt: «Der Spray schneidet nicht schlechter ab als die gängigen Therapien.» Die Kunden seien jedenfalls zufrieden. 60 Prozent der Kunden mit Akne würden den 50 Dollar teuren Spray (er hält etwa einen Monat lang) wieder bestellen, wohingegen nur 20 Prozent der Kunden ohne Akne.

Einem natürlichen Deo ist derweil eine Forschergruppe aus Genf auf der Spur. Das Team um Vladimir Lazarevic vom Genfer Universitätsspital untersuchte letztes Jahr zusammen mit dem Aroma- und Duftstoffhersteller Firmenich die Zusammensetzung der Achselhöhlenflora bei 24 Freiwilligen sowie die Gerüche, die sie absonderten. Die eine Hälfte der Probanden nutzte Deos, die andere nicht.

Die Auswertung zeigte drei Dinge: Erstens töten die Deos praktisch alle Bakterien ab. Zweitens – wenig überraschend – stinken die Benutzer von Deos weniger. Und drittens konnten die Forscher zeigen, dass bei Menschen mit stark riechendem Schweiss die Corynebakterien überwiegen, bei solchen mit wenig Schweissgeruch die Propionibakterien. «Man könnte sich nun ein probiotisches Deo mit diesen Bakterien vorstellen», sagt Lazarevic. «Ich selber bevorzuge eine natürliche Zusammensetzung der Hautflora.»

Dem könnte Jamie Heywood nur beipflichten.

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 24.1.16

Aufs falsche Protein gesetzt

Am Anfang von Alzheimer steht das Tau-Eiweiss – doch Pharmafirmen bekämpften jahrelang ein anderes Protein

Wer war zuerst? Beta-Amyloid oder Tau, das ist hier die Frage. Illu: freshidea/Fotolia

Wer war zuerst? Beta-Amyloid oder Tau, das ist hier die Frage. Illu: freshidea/Fotolia

Die Schuldigen am geistigen Zerfall schienen ausgemacht: Die «Plaques» im Gehirn von Alzheimer-Patienten – klumpige Ablagerungen von Beta-Amyloid-Eiweissen (Aß) – galten lange als Hauptursache der Demenz­erkrankung. Diverse Pharmafirmen, darunter Roche, Eli Lilly oder Pfizer entwickelten und testeten Wirkstoffe, welche diese Plaques auflösen und den geistigen Zerfall stoppen oder gar rückgängig machen sollten. Doch in grossen klinischen Stu­dien versagten alle diese einst so hoffnungsvollen Medikamente.

Den Grund für das Scheitern könnte nun eine Analyse ­mehrerer Tausend Gehirne verstorbener Demenzpatienten liefern. Der Studie zufolge stehen nicht die Aß-Ab­lagerungen am Ursprung der Demenz, sondern andere Proteine: sogenannte Tau-Tangles oder Neurofibrillen. Das sind Knäuel von Tau-Eiweissen, die normalerweise helfen, das Zellskelett zu stützen, im Gehirn von Alzheimerpatienten aber die zellschädigenden Tangles bilden – und dies schon lange vor den Aß-Ablagerungen.

Für ihre Studie konnten die US-Forscher auf eine grosse Gehirnbank zurückgreifen. Das Team um Melissa Murray von der Mayo Clinic in Jacksonville, Florida, bestimmte bei den über 3600 Gehirnen die für Alzheimer typischen Aß- und Tau-Ablagerungen, wie sie im Fachblatt «Brain» berichteten. Eine statistische Analyse der so gewonnenen Daten zeigte: Es sind die Tau-Knäuel, die den Verlauf der Demenz exakt voraussagen, nicht die Aß-Plaques.

Tau-Knäuel stehen am Anfang der Alzheimer-Erkrankung

Tau-Knäuel stehen am Anfang der Alzheimer-Erkrankung

Da drängt sich die Frage auf: Haben die Pharmafirmen mit ihrer einseitig auf Aß-Ablagerungen fokussierten Strategie aufs falsche Pferd gesetzt? «Das ist eine gute Frage», sagt der Alzheimerforscher Dietmar Thal von der Universität Ulm. «Als Pharmafirma würde ich mich eher breit aufstellen. Einerseits das Amyloid nicht vergessen, und dieses möglichst früh attackieren, aber andererseits auch auf Tau und andere Ziele setzen.»

Das sieht Irene Knüsel ebenso, Alzheimer-Forscherin bei Roche in Basel. Allen Experten sei mittlerweile klar, dass man eine so komplexe Krankheit wie ­Alzheimer nie mit nur einer Therapie heilen könne. Auch Roche stütze sich deshalb in der Forschung breiter ab. Knüsel selbst erforscht die Rolle von Entzündungen bei der Entstehung von Alzheimer.

Stressfaktoren können die Tau-Eiweisse verändern

Auch wenn die neue Alzheimer-Gehirnstudie aus den USA ein wenig mehr Klarheit über den Beginn der Demenzerkrankung schafft, bleiben noch viele Fragen offen. So ist die Rolle der Plaques nach wie vor unklar. Möglicherweise verschlimmern sie erst in einem späten Stadium der Krankheit den Verlauf, vielleicht sind sie aber auch nur eine Begleiterscheinung der degenerativen Prozesse und per se kaum schädlich.

Ebenso ungelöst ist die Frage nach der Ursache: Was löst die Veränderungen im Tau-Eiweiss aus, die letztlich dazu führen, dass es die zellschädigenden Knäuel in den Neuronen bildet? Laut Dietmar Thal weiss man aus Experimenten, dass verschiedene Stressfaktoren das Tau-Protein so verändern können, dass es die Knäuel bildet. Dazu zählen Schädel-Hirn-Traumata, Zellgifte, Sauerstoff­entzug oder auch entzündliche Prozesse, wie sie Knüsel bei Roche erforscht. Was ursächlich zur ­Demenz führe, so die Experten, wisse man letztlich aber immer noch nicht.

Klar ist hingegen, dass Alzheimer schon Jahrzehnte vor den ersten klinischen Symptomen beginnt. So fanden deutsche Forscher um Dietmar Thal und Heiko Braak vor vier Jahren in über 2300 Gehirnen aller Alters­klassen schon sehr früh, im Alter von 20, 30 Jahren, Vorboten der Tau-Knäuel.

Das heisst auch: Zeigen sich bei einem Patienten die ersten geistigen Defizite, ist es für eine Therapie schon viel zu spät. Man brauche unbedingt bessere Methoden zur Frühdiagnose, sagt Thal, um eine Therapie möglichst früh beginnen zu können. «Wenn man rechtzeitig attackiert, kann man den Ausbruch der Krankheit möglicherweise lange hinauszögern.»

Dass diese Strategie funktionieren könnte, zeigen kürzlich präsentierte Resultate der Schweizer Biotechfirma Biogen Idec. In einer kleinen klinischen Studie (Phase Ib) reduzierte ihr Wirkstoff Aducanumab bei den Alzheimerpatienten nicht nur die Anzahl Aß-Plaques, sondern verlangsamte auch den geistigen Zerfall. Dietmar Thal warnt indes vor allzu starker Euphorie, bevor der Wirkstoff nicht an einer grossen Kohorte getestet wurde: «Das haben wir inzwischen gelernt.»

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 12.4.2015

«Freund Wolfram ist mein Lieblingselement»

Der Neurologe Oliver Sacks über sein Leben und seine Liebe zur Chemie

(Interview publiziert am 20.1.2002)

Oliver Sacks kann nicht still sitzen. Auch wenn der 68-jährige Neurologe und Buchautor nach einer Woche PR-Tour durch Deutschland und die Schweiz müde und abgekämpft wirkt, steht er während unseres Interviews in einem Heidelberger Hotel immer wieder auf, um ein Stück Metall, ein Kaleidoskop oder ein T-Shirt zu suchen, das er mir noch zeigen will. Oder er öffnet das Fenster - «mir ist hier drin viel zu heiss» -, um es nur eine Minute später wieder zu schliessen - «der Lärm stört mich».

Manche Charakterzüge von Oliver Sacks sind fast so bizarr, wie die Schilderungen seiner neurologischen Patienten, die ihn zum Weltstar gemacht haben. Mit Büchern wie «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Eine Anthropologin auf dem Mars» oder «Awakenings - Zeit des Erwachens» erhob er die medizinische Fallstudie zur literarischen Form. Awakenings - die Geschichte einer Gruppe von Patienten, die an einer rätselhaften Schlafkrankheit leidet und dank einem Parkinson-Medikament für kurze Zeit aus dem Dämmerzustand auftaucht - wurde auch im Kino ein Grosserfolg. Robert de Niro spielte darin einen Patienten, Robin Williams den Neurologen Oliver Sacks.

In seinem neusten Buch «Onkel Wolfram» geht es für einmal nicht um Patienten, sondern um Oliver Sacks selber. Das Buch ist eine Geschichte über seine Kindheit - und gleichzeitig eine Geschichte über seine Liebe zur Chemie.

SonntagsZeitung: Herr Sacks, Ihr neues Buch liest sich zu grossen Teilen nicht wie eine Autobiografie, sondern wie ein Abriss über die Geschichte der Chemie. War das Ihre Absicht?

Oliver Sacks: An einem Punkt schien es mir selber, ich hätte zwei Bücher vor mir. Aber gleichzeitig realisierte ich, dass ich die Geschichte der Chemie selber durchlebte, also musste ich die beiden Sachen zusammenweben. Ich hoffe, dass die beiden Geschichten für den Leser nun gut zusammenpassen.

Das Metall Wolfram spielt offensichtlich eine zentrale Rolle in Ihrem Leben. Was ist so speziell daran?

Sacks: (Er klaubt ein Stück Metall aus einem Ledertäschchen.) Ich lasse Sie selber entscheiden.

Es ist ziemlich schwer.

Sacks: Für mich war es speziell, weil ich es mit Onkel Dave, den wir auch Onkel Wolfram nannten, in Verbindung brachte und mit all dem, was er mir über das Metall erzählte. Dann haben mich natürlich auch die physikalischen und chemischen Eigenschaften von Wolfram fasziniert.

Sie haben kürzlich gesagt, das World Trade Center würde heute noch stehen, wäre es aus Wolfram konstruiert gewesen. Meinen Sie das ernst?

Sacks: Ja und nein. Nun, ich fürchte, Wolfram ist zu schwer und zu teuer, um damit einen Wolkenkratzer zu konstruieren. Nichtsdestotrotz, hätte die Kernstruktur aus Wolfram und nicht aus Stahl bestanden, wäre sie wohl nicht geschmolzen. Stahl schmilzt schon bei 1500 Grad, während Wolfram bis fast 3000 Grad sehr hart und stabil bleibt. Im Prinzip habe ich Recht, aber praktisch wäre es nicht gewesen.

Als Bub richteten Sie in Ihrem Elternhaus ein Chemielabor ein und führten dort, zumindest aus heutiger Sicht, gefährliche Experimente durch.

Sacks: Einspruch. Ich habe mich nicht auf gefährliche Experimente spezialisiert. Die meisten Experimente waren sanft, schön, interessant, und sie machten vor allem Spass. Spass und Abenteuer waren die wichtigsten Aspekte. Auch die Bücher, die ich benutzte, hatten lustige Titel wie «Chemical Recreations» oder «Playbook of Metals». Zugegeben, einige Experimente waren gefährlich.

Welches war das gefährlichste?

Sacks: Vermutlich waren es die Explosionen. Man konnte nie exakt vorhersagen, was genau passieren wird. Meine Eltern mahnten mich aber zur Vorsicht, ich solle eine Schutzbrille tragen. Heute wäre es wohl für einen Jungen wie mich unmöglich, ein solches Labor aufzubauen. Heutige Chemiebaukästen enthalten nur langweiliges Zeugs.

Das Periodensystem hat es ihnen besonders angetan. Sie schreiben, es sei das schönste Ding, das Sie je gesehen haben. Finden Sie das immer noch?

Sacks: Oh ja. Warum würde ich sonst 50 Jahre später ein solches T-Shirt tragen (knüpft sein orangenes Hemd auf und zeigt stolz sein Periodentafel-T-Shirt)?

Was ist denn daran so schön?

Sacks: Die Periodizität, wie die Elemente angeordnet sind. Man hat das Gefühl, die Atome würden langsam anschwellen. Die Wiederholungen machen aus dem Ganzen eine Art Gedicht; sie schaffen einen Eindruck der Kreisläufe und Regelmässigkeiten in der Natur.

Oliver Sacks wuchs zusammen mit drei älteren Brüdern in einer jüdischen Grossfamilie in London auf. Seine Eltern waren beide viel beschäftigte Ärzte; für die Kinder sorgten Nannies. 1939 steckten die Eltern aus Angst vor Bombardierungen den damals sechsjährigen Oliver und den zweitjüngsten Sohn Michael für vier Jahre ins ländliche Internat von Braefield, das zur Hölle - und zum dunkelsten Kapitel in Sacks Leben - werden sollte. Ein sadistischer Schulleiter malträtierte die Schüler dort so schwer, dass die Striemen und blauen Flecken noch die geringsten Folgen waren.

In Ihrem Buch widmen sie der Braefield-Zeit nur gerade ein Kapitel. Warum?

Sacks: Zehn Seiten darüber reichen. Es sind starke Seiten. Ich trage heute noch die Wunden und Narben aus dieser Zeit, wie viele andere auch. Generell gesagt spreche ich heute darüber irgendwie distanziert. Ich beschreibe die Vorkommnisse eher, als dass ich mich darüber beklage.

Als Leser wird man den Eindruck nicht los, dass Sie in diesen vier Jahren das Vertrauen in die Menschen verloren haben. Stimmt dieser Eindruck?

Sacks: Ja, ich vermute, das ist richtig. (Atmet tief durch.) Jedenfalls sagt das mein Analytiker auch so.

Ihre Eltern haben sich wenig um Sie gekümmert und Ihre wahren Bedürfnisse nie richtig erkannt. Trotzdem üben Sie kaum Kritik. Können Sie gut vergeben?

Sacks: Ich vergebe nicht. Ich vergesse aber auch nicht. Ich denke, dass aus der Distanz eher Verständnis und Versöhnung angesagt sind. Meine Eltern waren sehr beschäftigt, es war Krieg, und ich beklagte mich nie. Es war für sie also nicht einfach zu spüren, was mit mir los war. Damals wurde auch weniger über Gefühle gesprochen, als man das heute tut. Ich sage allerdings viele Dinge auch bewusst nicht explizit im Buch, der Leser muss da halt zwischen den Zeilen lesen.

Zurück zur Chemie. Wenn Sie ein bestimmtes Element auswählen müssten, welches wäre Ihr Lieblingselement?

Sacks: Ich denke, ich nehme meinen alten Freund Wolfram. Vernünftiger wäre wohl Sauerstoff, weil wir ja davon leben.

Wie wäre es mit einem Edelgas? Sie sagen ja selber, Ihre Persönlichkeit würde derjenigen der Edelgase sehr ähneln.

Sacks: In meiner Wohnung habe ich einen sehr schweren Ballon, der mit Xenon gefüllt ist. Aber meine Vorlieben ändern sich ständig, es kommt sehr auf meinen Zustand an. Bin ich in einer schmelzenden Stimmung, mag ich Gallium, weil Gallium in der Hand schmilzt.

Sie schreiben, dass Sie - wie ein Edelgas - keine Bindungen eingehen können. Mit ihren Patienten schaffen Sie das aber.

Sacks: Paradoxerweise spielt die Förmlichkeit der Beziehung eine wichtige Rolle. Die Distanz ermöglicht es mir, mich in meine Patienten einzufühlen und tiefe Sympathien für sie zu entwickeln. Das Gleiche gilt auch für das Verhältnis von mir zu meinen Studenten.

Hatten Sie je eine Liebesbeziehung mit einer Frau?

Sacks: Nein, weder mit einer Frau noch mit einem Mann oder einem Hund. Ich hatte dafür einmal eine enge Beziehung mit einem Oktopus.

Leiden Sie unter Ihrer sozialen Isolation?

Sacks: Ja, manchmal fühle ich mich sehr einsam. Übrigens betrifft ein anderes Paradox, das mit Distanz und Nähe zu tun hat, das Schreiben. Ich schreibe oft in Cafés. Ich mag es, Leute um mich zu haben, aber immer nur aus einer gewissen Distanz. Ich bin Zuschauer, nie Teilnehmer.

Sie haben Ihr Leben sehr gut organisiert. Sie sollen jeden Morgen das gleiche Frühstück essen. Stimmt das?

Sacks: Ich weiss nicht, ob mein Leben gut organisiert ist. Ich will es nur möglichst einfach halten. In Deutschland habe ich schon wieder viel zu viel zugenommen, weil es überall so gute Sachen gibt. (Er steckt sich dabei das schätzungsweise siebte Schöggeli in den Mund.) Deshalb gibts bei mir nur unappetitliches Müesli zum Morgenessen und Fisch mit Reis zum Abendessen.

Schwimmen Sie noch jeden Tag?

Sacks: Ja. Heute Morgen konnte ich schwimmen, und ich hoffe, dass es auch heute Abend nach der Lesung noch einmal reicht.

Die Liebe zum Schwimmen haben Sie von Ihrem Vater geerbt.

Sacks: Ich kann mich nicht erinnern, jemals nicht geschwommen zu sein. Wir waren Wasserbabys. Schwimmen ist für mich natürlicher als Gehen. Die Gelenkschmerzen und die steifen Glieder scheinen beim Schwimmen wie weggeblasen zu sein. Das ist meine Wassertherapie.

Ihre Karriere scheint stark von Ihrem Vater beeinflusst. Er wollte Neurologe werden, entschied sich dann aber für Hausarzt. Sie wurden aber Neurologe.

Sacks: Das stimmt nur teilweise. Meine Mutter war auch in Neurologie ausgebildet, wurde dann aber Chirurgin. Meine Eltern waren sicher wichtige Vorbilder für mich, aber andere Erfahrungen spielten bei der Wahl auch eine Rolle: so etwa die Fotografie, durch die mir klar wurde, wie Farben im Hirn verarbeitet werden. Dann hatte ich als Kind Migräne-Attacken, bei denen ich die eine Hälfte des Gesichtsfeldes nicht mehr wahrnahm. Das alles liess mich über das Hirn nachdenken - ein wunderbares Organ, das alles steuert: Wahrnehmung, Sprache, Gedanken, Bewegung, Gefühle und so weiter.

Könnte es auch sein, dass Sie die Neurologie so gereizt hat, weil diese Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte - ähnlich wie die Chemie im 19. Jahrhundert?

Sacks: Ja genau. Die Neurologie war damals rein beschreibend, im Stadium der Naturhistorik. Chemie wurde für mich zu mathematisch, meine Begabungen liegen beim Beobachten, in der Natur. Deshalb fasziniert mich auch die Botanik so sehr.

Krankheiten sind für Sie eine Art Lebensformen. Wie meinen Sie das?

Sacks: Ja, für einige Krankheiten stimmt das. Das Tourette-Syndrom beispielsweise scheint ein seltsames, eigenes wildes Leben zu führen. Generell gilt das für Zustände, die schon lange oder sogar lebenslang andauern: Solche Zustände werden untrennbar von der Identität des Patienten, sie werden also zur Lebensform. Man kann auch Wahnsinn als eine Lebensform bezeichnen, und nicht nur als Geisteskrankheit. Ich mag den Begriff Geisteskrankheit sowieso nicht, er zeugt von wenig Respekt.

Wo ziehen Sie die Grenzen?

Sacks: Das Konzept der Lebensform bedeutet überhaupt nicht, dass ich nicht an Behandlungen glaube. Ich betrachte einen kleinen Schnitt im Finger nicht als Lebensform, das behandle ich sofort mit einem Desinfektionsmittel.

Lehren uns Ihre neurologischen Patienten nicht auch, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, letztlich eine Illusion ist?

Sacks: Nein, so würde ich das nicht nennen. Ich rede lieber von Konstruktionen oder Kreationen. Ich zweifle nicht, dass es die Welt wirklich gibt, aber wir können sie nur im Rahmen unserer Sinne und intellektuellen Konstruktionen wahrnehmen. Farbenblinde Menschen konstruieren diese Welt beispielsweise anders. Oder Leute, die an Geologie interessiert sind, konstruieren ihre Welt ebenfalls anders. Mit anderen Worten: Jeder kreiert sich eine eigene Welt, auch wenn sie in den groben Zügen übereinstimmen.

Sie sind ein grosser Anhänger von Musiktherapie und selbst ein Musikliebhaber.

Sacks: An unserem Spital in der Bronx, dem «Awakenings»-Spital, haben wir eine Abteilung, die sich mit Musik und dem Hirn befasst. Die macht zum Teil auch Musiktherapie mit Patienten. Das beste Beispiel für mich sind immer Parkinson-Patienten, die zwar kaum einen Schritt machen können, aber tanzen; die keine Silbe sagen, aber singen können. Nur: Musiktherapie ist nichts Magisches, sie kann aber in gewissen Fällen sehr wirksam und wichtig sein.

Sie sagten einmal, dass die meisten neurologischen Erkrankungen unheilbar seien. Das scheint heute nicht mehr ganz zu stimmen. Zumindest gibt es für so schwere Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer dank der Stammzellenforschung und neuer Medikamente etwas Hoffnung.

Sacks: Absolut. Auch ohne die Stammzellen haben wir in letzter Zeit bemerkenswerte Dinge gefunden: So gibt es im Hirn, entgegen der langjährigen Lehrmeinung, eine Regeneration von abgestorbenen Zellen sowie eine spontane Produktion neuer Nervenzellen. Andererseits ist das Hirn auch viel plastischer, als man bislang gedacht hat; das heisst, bei einem Ausfall einer Hirnregion kann eine andere bis zu einem gewissen Grad einspringen. All dies ist schon aufregend genug. Und nun kommen noch die embryonalen Stammzellen hinzu, die grosses Potenzial haben, sich in Nervenzellen zu verwandeln. Wie sich das in Therapien umsetzen lässt, kann man jetzt allerdings noch nicht genau sagen.

Erschienen am 20.Januar 2002 in der SonntagsZeitung

Das Geheimnis der «Chêne Napoléon»

Das Erbgut der Lausanner Eiche birgt viele Überraschungen – es unterscheidet sich von Ast zu Ast

La Chêne Napoléon auf dem Campus der Uni Lausanne

La Chêne Napoléon auf dem Campus der Uni Lausanne

Imposant steht sie da, kräftig und gesund, wie ein Monument, an dem die Zeit scheinbar spurlos vorbeigegangen ist. Seit über 200 ­Jahren prägt die 30 Meter hohe «Chêne Napoléon», die Napoleon-Eiche, als Wahrzeichen den Campus der Uni Lausanne (Unil) am Genfersee, auf dem Gelände des ehemaligen Landguts von Schloss Dorigny. «Ich war schon als Student von der Eiche fasziniert», sagt der Botaniker Philippe Reymond.

Heute ist Reymond Professor an der Uni Lausanne. Schaut er aus seinem hellen Büro, verdeckt nur ein kleines Wäldchen den direkten Blick auf die gut 100 Meter entfernte Stieleiche (Quercus robur) – und damit auch auf eines seiner aktuellen Studienobjekte. Die «Chêne Napoléon» ist für den Pflanzen-Molekularbiologen nämlich mittlerweile mehr als ein reines Faszinosum; er will den Baum genetisch analysieren und dabei heraus­finden, wie stark sich das Erbgut (Genom) in verschiedenen Teilen des Baumes unterscheidet. «Ist es überall der gleiche Baum?», fragt Reymond.

Nur wenige Bäume wurden genetisch untersucht

Reymond tat sich daher vor gut zwei Jahren mit fünf anderen Professoren aus Lausanne zusammen, um ein Projekt zu starten. Sie nannten es «Napoléome», eine Kombination aus dem Namen der Eiche und dem Wort Genom. Die Napoleon-Eiche, so das Ziel des Lausanner Teams, soll dereinst weltweit der genetisch am besten untersuchte Baum werden. Bislang haben Forscher erst von wenigen Bäumen das Erbgut entschlüsselt: von einer Pappel, der Gemeinen Esche, Gummibaum, Apfel, Birne, Pfirsich oder der Fichte.

In einem ersten Schritt widmete sich das Napoléome-Team dem wahren Alter der Eiche. Überliefert ist, dass der damalige Guts­besitzer Etienne-François-Louis de Loys die Eiche im Jahr 1800 gepflanzt haben soll, und zwar aus Anlass des Zwischenhalts der Truppen Napoleons auf deren Italien-Feldzug. Doch das stimmt so nicht, wie eine Jahrring-Analyse zeigte, die Reymond in Auftrag gab. Die Eiche war demnach schon 22-jährig, als Napoleon das Landgut Dorigny besuchte.

Nachdem diese Frage geklärt war, konnten sich Reymond und Co. ihrem eigentlichen Ziel widmen: der Erbgutanalyse. Dazu schickten sie erfahrene Kletterer in den Baum, um von möglichst vielen verschiedenen Stellen Proben zu sammeln. Sie entschieden sich dann, vorerst zwei Proben genauer zu analysieren und zu vergleichen – eine von ganz oben, die andere von einem Ast ganz unten. Die Idee: Je weiter entfernt die Proben, desto mehr unterschiedliche Mutationen können sich im Erbgut der Zellen über all die Jahre angesammelt haben.

Erste Resultate liegen nun vor. So umfasst das Erbgut der Stiel­eiche etwa eine Milliarde Basenpaare. Es ist damit etwa ein Drittel so gross wie das menschliche Genom, aber zehnmal grösser als dasjenige der Acker-Schmalwand, einer genetisch sehr gut untersuchten einjährigen krautigen Pflanze. Interessant ist aber vor allem die Anzahl Gene: 50 000 fanden Reymond & Co. im Genom der Stiel­eiche – das sind doppelt so viele wie im menschlichen Erbgut.

Die Eiche ist das Wahrzeichen des UNIL-Campus

Die Eiche ist das Wahrzeichen des UNIL-Campus

Viele dieser Gene dienten der Abwehr von Schadorganismen wie Pilze, Bakterien oder Insekten, sagt Reymond. Denn die Bäume könnten ja nicht einfach davonlaufen, sondern müssten sich anderweitig wehren, etwa durch eine hohe Mutationsrate in den Abwehrgenen. «Das ist aber nur eine Hypothese», sagt Reymond.

Und tatsächlich: Beim Vergleich der beiden Proben fand das Team Tausende genetische Unterschiede oder Mutationen. Es ist allerdings noch nicht klar, wie viele dieser Mutationen echt sind und wie viele auf Fehler bei der Erbgut­analyse zurückzuführen sind. In ein paar Monaten, hofft Reymond, sollen die «ersten paar Hundert Mutationen» bestätigt sein.

Die Arbeit ist dann aber noch lange nicht zu Ende. 28 weitere Proben warten auf eine genaue Erbgutanalyse. Erst danach könne man wichtige Fragen beantworten, sagt Reymond, wie etwa: Wie hoch ist die Mutationsrate in der Eiche? Wann passierten die Erbgutveränderungen? Und vor allem: Welche Gene erlauben es dem Baum, so lange zu leben, ohne durch die ständigen Angriffe ernsthaft Schaden zu nehmen?

Die Eiche behält diese Geheimnisse vorerst für sich. Sie hat ja auch Zeit, ein paar Hundert Jahre bestimmt noch. Mit gerade einmal 237 Jahren steht sie jedenfalls mitten im Leben, voll im Saft.

Der Artikel erschien am 17.5.2015 in der SonntagsZeitung

Schöpfer der strittigen Genchirurgie

Martin Jinek von der Uni Zürich hat jene revolutionäre Technologie entwickelt, mit der chinesische Forscher kürzlich Gene in menschlichen Embryonen veränderten. Er wird bereits als Nobelpreisträger gehandelt.

Martin Jinek

Martin Jinek

Von einer Revolution in der Biologie ist die Rede, von einer Technologie, die völlig neue Türen für die Forschung und die Medizin öffnet. Crispr/Cas9, kurz Crispr, heisst das heiss gehandelte gentechnische Werkzeug, das erst vor drei Jahren sein Debüt machte und seither Labors auf der ganzen Welt im Sturm erobert hat. In aller Munde ist die Technik seit Ende April, als chinesische Forscher bekannt gegeben hatten, sie hätten mit Crispr erstmals menschliche Embryonen genetisch verändert – ein Tabubruch, vor dem selbst die Wissenschaftsmagazine «Science» und «­Nature» kürzlich gewarnt hatten.

Den durchschlagenden Erfolg verdankt Crispr einerseits einer hohen Präzision, andererseits aber auch der Tatsache, dass das Werkzeug in der Anwendung viel einfacher ist, als dies sein unaussprechlicher Name erahnen lässt. «Es ist schon fast erschreckend, wie simpel die Technologie ist», sagt Adriano Aguzzi, Prionenforscher an der Universität Zürich.

«Crispr ist ein äusserst leistungsstarkes Werkzeug, um Gene gezielt zu verändern», sagt Martin Jinek vom Biochemischen Institut der Universität Zürich. Der junge Assistenzprofessor mit tschechischem Pass ist der eigentliche «Werkzeugmacher»; er hat von 2007 bis 2012, damals noch als Postdoc an der University of California in Berkeley (UCB), die Grundlagen für die neue Technologie gelegt. Im Labor von Jennifer Doudna untersuchte er als Erster die Funktion des bakteriellen Eiweisses Cas9 (siehe Kasten) und erkannte ­dessen Potenzial. ­Jinek war auch Erstautor jenes Aufsatzes im Fachblatt «Science», der im August 2012 den Crispr-Hype so richtig lostrat.

«Was Jinek gemacht hat, ist absolut fundamental», sagt Aguzzi. «Dafür gibt es noch einen Nobelpreis.» Dass er an die Uni Zürich gelockt werden konnte, «ist ein unglaublicher Fang für uns», findet Aguzzi, der selber auch mit der Crispr-Technologie arbeitet.

Erbkrankheiten heilen

Wie keine andere Technologie zuvor vereinfacht die Crispr-Technologie das sogenannte Genome Editing. Damit beschreiben Forscher Methoden, die es erlauben, das Erbgut präzise zu korrigieren, so wie man mit Word oder einem anderen Büroprogramm einzelne Buchstaben, Wörter oder ganze Sätze in einem Text verbessern kann. So können Forscher mit Crispr einerseits gezielt defekte Genabschnitte durch gesunde ersetzen oder andererseits ebenso gezielt Gene funktionsunfähig machen.

So funktioniert die Crispr/Cas9-Technologie

So funktioniert die Crispr/Cas9-Technologie

Vor allem in der Grundlagen- und in der angewandten Forschung hat das neue Tool wie eine Bombe eingeschlagen. Plötzlich sind Experimente möglich, von denen man vor ein paar Jahren höchstens geträumt hat. «Theoretisch setzt nur die Fantasie Grenzen», sagt Aguzzi.

Man könne mit Crispr zum Beispiel ganz einfach Modelle für menschliche Krankheiten generieren, sagt Jinek, indem man gezielt und präzise etwa in menschlichen Stammzellen oder Versuchstieren die betroffenen Gene ausschalte. Damit könne man nicht nur verschiedenste Krankheiten studieren, sondern gleich auch mögliche Medikamente gegen die Leiden testen.

Die Aufregung um Crispr wäre aber nicht so gross, wenn das Tool nur für die Grundlagenforschung interessant wäre. Doch es geht weit darüber hinaus: In allen Gebieten der modernen Biomedizin und Pflanzenbiotechnologie wird das Werkzeug massive Fortschritte bringen, vor allem auch in der Medizin. Das Genome Editing könnte zum Beispiel der Gentherapie nach Jahren mit kleinen Fortschritten und grossen Rückschlägen endlich zum Durchbruch verhelfen.

Im Visier haben die Forscher laut ­Jinek vorerst vor allem Krankheiten, die auf einen genetischen Defekt zurückzuführen sind. Dazu zählen verschiedene Formen der Bluterkrankheit, angeborene Immundefekte oder auch Aids. Bei letzterer Krankheit weiss man, dass Menschen mit einer seltenen Mutation des Zelloberflächeneiweisses CCR5 resistent sind gegen eine Infektion mit dem HI-Virus. Dies wollen Forscher ausnützen, indem sie Blutstammzellen von Menschen ohne diese Resistenz mit Genome Editing korrigieren und so gezielt HIV-resistent machen. Die Idee: die Zellen ausserhalb des Körpers behandeln und die korrigierten Versionen dann in die Blutbahn zurückspritzen.

Noch sind keine klinischen Studien am Laufen, aber mehrere Start-ups und vermutlich auch Pharmafirmen stehen in den Startlöchern. Eines davon, Crispr Therapeutics, hat den offiziellen Hauptsitz in Basel, Labors und Büros in London und Cambridge (USA). Klares Ziel der Jungfirma: Therapien gegen genetisch bedingte Erkrankungen finden. An welchen man forscht, verrät CEO Rodger Novak auf Anfrage noch nicht.

Martin Jinek selber ist ebenfalls an einem Start-up beteiligt. Zusammen mit Jennifer Doudna und weiteren Mitstreitern gründete er während seiner Zeit an der UC Berkeley Caribou Biosciences. Heute ist er noch als wissenschaftlicher Berater für die Firma tätig, die selber keine Therapien entwickelt, sondern eine Technologieplattform für verschiedenste Anwendungen anbietet.

Crispr wird auch in der Pflanzengentechnologie die Karten völlig neu mischen. Verändert man mit Crispr nämlich gezielt ein Pflanzengen, etwa ein Resistenzgen gegen einen Schädling, kann man diesen Eingriff nicht von einer natürlichen Mutation unterscheiden. Die Crispr-Genchirurgie ist so sauber, dass sie keine Spuren hinterlässt – und vor allem auch keine Fremdgene, wie dies bei den heute kommerziell genutzten gentechnisch veränderten (GVO) Nutzpflanzen der Fall ist. Das wirft ganz neue Fragen auf: Gelten mittels Crispr aufgepimpte Nutzpflanzen noch als GVO? Oder brauchen sie keine speziellen Regelungen, weil sie sich eh nicht von normalen Züchtungen unterscheiden lassen?

Das sind bei weitem nicht die einzigen brisanten Fragen, die Crispr provoziert. Denn das Gentechwerkzeug ist gerade wegen seiner einfachen Handhabe und seiner Präzision für Missbrauch geradezu prädestiniert, etwa in der Biowaffenforschung oder der Reproduktionsmedizin. «Dass man mit Crispr unglaublichen Mist anstellen kann, das ist klar», sagt Aguzzi. Die Publikation der chinesischen Experimente mit menschlichen Embryonen überraschte den Neuropathologen daher überhaupt nicht. Er relativiert aber: «In der Schweiz wird so was nicht passieren, nur dort, wo nichts reguliert ist.»

Mit Preisen bereits hoch dotiert

Auch Martin Jinek macht sich Sorgen wegen der voreiligen Versuche an den menschlichen Embryonen. «Wir verstehen die Technik noch zu wenig gut, wir kennen noch nicht alle Risiken.» Er befürwortet daher die Idee einer Konferenz, an der sich die Forscherzunft eigene Regeln für die Arbeit mit Crispr auferlegen soll. Als Vorbild soll dabei die Asilomar-Konferenz von anno 1975 dienen. Damals versammelte sich die Elite der Genforscher auf der Halbinsel von Monterey in Kalifornien, um den Umgang mit der aufkommenden Gentechnologie zu regulieren. «Das wäre eine gute Idee», sagt Jinek.

Der erst 35-jährige Jinek wurde bereits mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Vor zwei Jahren, als er nach Zürich kam, erhielt er einen der begehrten, mit 1,5 Millionen Euro dotierten Forschungsbeiträge des Europäischen Forschungsrats (ERC Starting Grant). Letztes Jahr kam der John Kendrew Award des Europäischen Molekularbiologielabors (EMBL) dazu, und vor wenigen Wochen erst der mit 20 000 Franken dotierte Friedrich-Miescher-Preis, der als höchste hiesige Auszeichnung für Nachwuchsforschende auf dem Gebiet der Biochemie gilt.

Ob es für Jinek selber dereinst auch zum Nobelpreis reichen wird (der für die Entdeckung der Crispr-Technologie wohl schon bald verliehen wird), ist unklar. Normalerweise heimsen die Professoren, in deren Labor eine Entdeckung gemacht wird, alle Lorbeeren ein. In seinem Fall wären das Jennifer Doudna in Berkeley und Emmanuelle Charpentier vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, deren Arbeitsgruppe mit Doudnas Labor zusammenarbeitete. «So funktioniert das halt in der Wissenschaft», sagt Jinek.

Wie es mit Jineks Karriere – mit oder ohne Nobelpreis – weitergeht, ist offen. Studiert hat er in Cambridge (UK), doktoriert am Europäischen Molekularbiologielabor in Heidelberg, dann zog es ihn für das Postdoc nach Berkeley und von dort nach Zürich, wo er weiter am Crispr/Cas9-System forscht. Das akademische Nomadentum finde er wichtig, hat er einmal gesagt, doch für den Moment geniesst Jinek das Umfeld in Zürich. «Ich habe fantastische Kollegen, die Ressourcen hier sind exzellent, dazu kommt ein gutes Netzwerk. Ich bin hier höchst zufrieden.»

 

Die Geschichte der Entdeckung

Eigentlich wollte das Team von Jennifer Doudna von der University of California nur verstehen, wie sich Bakterien gegen Viren schützen. Denn Bakterien besitzen ­bestimmte Eiweisse, mit denen sie eindringende Viren zerstückeln können. Und sie speichern kleine Teile des Virengenoms danach in ihrem eigenen Erbgut – als Vorlage, um die Viren bei der nächsten Infektion schneller attackieren zu können. Diese Erbgutfragmente nennt man «Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats» oder eben kurz: Crispr.

Der zweite Teil des Werkzeugs, Cas9, steht für das Enzym, welches das Erbmolekül DNA an einer vorgegebenen Stelle entzweischneiden kann – Cas9 ist eine «molekulare Schere» (siehe Grafik oben).

Martin Jinek hat zusammen mit Jennifer Doudna an der University of California in Berkeley als Erster das Potenzial von Crispr/Cas9 erkannt. Sein Verdienst ist unter anderem die Erkenntnis, dass das gentechnische Werkzeug nicht nur in Bakterien, sondern in allen möglichen Zellen verschiedenster Organismen funktioniert. (nw)

Erschienen am 15.5.2015 im Tages-Anzeiger

«Die Biotechnologie kann Afrika helfen»

Der Harvard-Professor Calestous Juma, Experte für nachhaltige Entwicklung, über die Ernährungskrise, den geplanten ­Anbau von Gentech-Bananen und die Rolle Europas als Bremser des technologischen Fortschritts

Calestous Juma (Foto: Martha Stewart)

Calestous Juma (Foto: Martha Stewart)

Vorgestern öffnete die Expo Mailand 2015 ihre Tore. Die Weltausstellung widmet sich dem Thema: «Den Planeten ernähren. Energie fürs Leben.» Calestous Juma, Professor für die Praxis Internationaler Entwicklung an der Harvard University in Cambridge bei Bos­ton (USA), befasst sich seit Jahren damit. Der gebürtige Kenianer, 61, berät Regierungen, die Vereinten Nationen und andere Organisationen zu Fragen rund um Wissenschaft, Technologie und Innovation. Anlässlich eines Vortrags an der Universität Zürich nahm sich Juma Zeit für ein Gespräch.

Herr Juma, wie viele Afrikaner sind heute noch unterernährt?

Ein Grossteil des Kontinents leidet an chronischem Hunger oder episodischen Hungersnöten. Etwa 200 bis 300 Millionen Menschen sind davon betroffen. Die Hälfte davon sind Bauern, und zwar weil die landwirtschaftliche Produktivität tief ist, die Infrastruktur schlecht und weil sie ungenügend ausgebildet sind. Dazu kommen nochmals 200 Millionen, denen es an bestimmten Nährstoffen mangelt.

Wie könnte man die Ernährungs­situation in Afrika verbessern?

Nach den grossen Hungersnöten der 1950er- und 1960er-Jahre hat man reagiert, indem man die Produktivität steigerte, vor allem wurde mehr Stärke, sprich Kohlen­hydrate, angebaut. Heute sehe ich vier grosse Herausforderungen: Erstens brauchen wir wirtschaftliches Wachstum, zweitens Ernährungssicherheit, drittens eine bessere, nährstoffreichere Ernährung und viertens eine nachhaltige Lebensmittelproduktion.

Das sind hochgesteckte Ziele.

Die Biotechnologie kann dabei wesentlich helfen. Wenn Baumwollbauern mehr Einkommen haben, können sie sich selber bessere Ernährung leisten. Die Wirtschaft kann durch eine höhere landwirtschaftliche Produktion ­angekurbelt werden. Dann kann man gewisse Nahrungsmittel mit Nährstoffen verstärken, Bananen zum Beispiel mit einem hohen Vitamin-A-Gehalt, und so die Ernährung verbessern. Wir können auch die Ernährungssicherheit erhöhen, indem wir zum Beispiel die Haltbarkeit gewisser Grundnahrungsmittel verlängern.

Wie wollen Sie die Nachhaltigkeit verbessern?

Etwa mit Sorten, die gegen Dürre oder Überschwemmungen tolerant sind. Die Probleme sind vielfältig und spezifisch, sie variieren von Land zu Land, von Ort zu Ort. Es gibt keine Einheitslösung für alle Probleme.

Richtig nachhaltig ist vor allem der Biolandbau.

Wir sollten die Landwirtschaft primär danach beurteilen, wie viele für Mensch und Umwelt schädliche Pestizide und Herbizide verwendet werden. Es sollte dabei keine Rolle spielen, ob man das Ziel «weniger Chemikalien» mit Biolandbau oder mit Gentechpflanzen erreicht. Das Ziel muss eine nachhaltige Landwirtschaft sein. Wenn man diese Sichtweise akzeptiert, kann man sachlich und faktenbasiert diskutieren. Heute ist die Diskussion noch immer ideologisch geprägt.

Das wird sich nicht so schnell ändern . . .

Trotzdem: Die Bauern sollten Zugang zu allen technologischen Optionen haben. Sie sollen entscheiden können, wann sie ein Problem mit gentechnisch veränderten Sorten (GVO) lösen wollen und wann nicht. Und sie sollen auch entscheiden können, wann ein biologischer Anbau besser geeignet ist. Ich habe ein Problem mit Gentechnikgegnern, die eine Option von vornherein ausschliessen wollen. Ich bin überzeugt, die Biotechnologie sollte eine Option unter mehreren sein, aber nicht die einzige.

2008 kam der Weltagrarbericht zu einem anderen Schluss. Die Gentechnologie habe keinen Platz in der afrikanischen Landwirtschaft, die Lösung liege alleine in kleinräumigen, biologisch geführten Betrieben.

Diese Argumentation ist rein ideologisch, pragmatisch wertlos und generell eine schlechte Idee. In Afrika wird bereits biologische Landwirtschaft betrieben, aber es funktioniert nicht, Afrika kann die Nachfrage nach Nahrungsmitteln so nicht decken. Ich wurde eingeladen, an dem Bericht mitzuarbeiten, aber ich lehnte ab. Ich wollte nicht an einem Prozess teilnehmen, wo die Antworten schon vor der Prüfung feststanden.

Ganz anderer Meinung ist der Schweizer Insektenforscher Hans Rudolf Herren, Co-Vorsitzender des Weltagrarberichts und ein vehementer Kritiker der Gentechnologie. Er hat eine Methode zur biologischen Bekämpfung der Schmierlaus, eines Maniok-Schädlings, entwickelt und damit Millionen von Menschen in Afrika das Leben gerettet.

Ich bin mit Hans Herren befreundet. Wir diskutieren öfter über diese Themen, werden uns aber nie einig. Hans hat einen sehr wichtigen Beitrag zur globalen Landwirtschaft gemacht mit seiner nicht chemischen, nicht gentechnischen Methode zur Schädlingsbekämpfung. Das respektiere ich sehr. Er wurde für diese Arbeit auch mit dem Welternährungspreis geehrt. Aber nochmals: Das ist nicht der einzige Weg. Es ist falsch, zu sagen, diese Methode hat hier funktioniert, daher wird sie überall funktionieren. Wer so denkt, entfernt sich von der Wissenschaft und wird dogmatisch.

Herrens Methode ist aber erfolgreich.

Seine Lösung funktioniert vielerorts, aber nicht überall. Ich würde das Gleiche auch einem Gentechnikverfechter sagen. GVOs sind nicht die Lösung für alles.

In Uganda haben Forscher eine Bananensorte entwickelt, die resistent ist gegen das zerstörerische Blattwelkebakterium Xanthomonas. Wird diese Sorte schon angebaut?

Von Xanthomonas Bakterien befallene Bananenbäume müssen umgetan werden 

Von Xanthomonas Bakterien befallene Bananenbäume müssen umgetan werden 

Soviel ich weiss, wären die Sorten bereit für eine Zulassung. Dafür fehlt allerdings noch ein Gesetz.

Wo liegt das Problem?

Das Gesetz wird von der Anti-Gentechnik-Bewegung bekämpft. Die Regierung hat zwar versucht, die Biotechnologie voranzutreiben und zu zeigen, dass sie sicher ist, aber jedes Mal, wenn eine Gesetzesvorlage ins Parlament kommt, wird sie von den Gegnern gekillt. Die wollen ein Gesetz, das den Anbau von GVO-Pflanzen verbietet.

Aus welchen Kreisen kommt die Opposition?

Die Bewegung ist stark von europäischen Organisationen geprägt, vor allem von christlichen Hilfs­organisationen. Als ich einmal öffentlich gesagt hatte, Uganda brauche ein Gesetz, um neue Sorten zuzulassen oder eben nicht zuzulassen, wurde ich aus diesen Kreisen massiv beschimpft.

Die Opposition beschränkt sich nicht auf Uganda.

Ja, man findet diese Bewegungen in allen afrikanischen Ländern, wo Europa früher Einfluss hatte, ausser in Südafrika. Überall, wo an GVO-Sorten geforscht wird, gibt es grosse Diskussionen. In Ghana zum Beispiel haben Forscher eine schädlingsresistente Reissorte entwickelt, und prompt haben Gegner, zum grossen Teil aus dem Ausland gesteuert, die Regierung ­verklagt.

Wie arbeiten die verschiedenen Länder zusammen?

Die Forscher haben ein Netzwerk, wo sie sich austauschen können. Im Sudan zum Beispiel entwickeln Forscher dürretolerante Sorten, in Nigeria eine ­Straucherbsensorte, die resistent ist gegen eine Motte, welche die Ernte zerstört. Heute gibt Nigeria 500 Millionen Dollar pro Jahr aus für Pestizide, um diese Motte zu bekämpfen. Auch an nährstoffreicheren Hirsesorten wird geforscht oder an dürretolerantem Mais. Und dies alles ohne Beteiligung ausländischer Firmen. Das Argument, die grüne Gentechnik nütze nur den grossen Agrokonzernen, stimmt für Afrika überhaupt nicht.

Wie finanzieren die Länder dann ihre Forschung?

Die Afrikaner fokussieren ihre Forschung auf spezifische Probleme in den einzelnen Ländern und nicht darauf, was die grossen Konzerne interessiert. Sie setzen ihre limitierten finanziellen Ressourcen, die alle aus den jeweiligen Ländern stammen, ganz gezielt ein. Uganda könnte zum Vorbild werden. Denn das Land hat am meisten GVO-Sorten in der Pipeline. Aber auch andere Länder, insgesamt etwa zehn, haben neue Sorten in der Entwicklung, darunter Kenia, Kamerun, Nigeria, Ghana oder Zimbabwe.

Die Opposition in Afrika gegen GVO ist gross, was könnte die Stimmung kippen lassen?

Wenn Bauern kommen und sagen: «Wir brauchen diese Sorten», dann wird sich die Situation schnell ändern. Dann wird es für die Regierungen sehr schwer, eine Sorte nicht zu bewilligen. Ich denke, dass dies bei der GVO-Bananensorte, die gegen das Blattwelkebakterium Xanthomonas resistent ist, bald der Fall sein könnte.

In Europa ist die Opposition gegen die Gentechnologie ebenfalls sehr stark. Deutschland plant, den Anbau von Gentechpflanzen ganz zu verbieten, in der Schweiz bestehen sehr hohe bürokratische Hürden für geplante Feldversuche mit GVOs.

Diese Haltung ist gefährlich und sendet ein falsches Signal. Man sollte die Wissenschaft nicht a ­priori aussperren, wenn man nicht weiss, wie sie künftig helfen könnte, ein Problem zu lösen. Wer wissenschaftlich denkt, hält sich alle Türen offen.

Wie beeinflusst diese Haltung Afrika?

Afrika schaut nach Europa. Wenn die Afrikaner nun sehen, dass in Asien die Biotechnologie boomt, dann beginnen sie das Vertrauen in die Europäer zu verlieren, und zwar nicht nur bezüglich GVOs, sondern bei allem. Vor allem was die Wissenschaft angeht, kann Afrika Europa nicht mehr trauen. Das kann auch die Rolle Europas in der Diplomatie untergraben.

Sie leben in Boston, fernab von Afrikas Problemen. Könnten Sie vor Ort nicht besser helfen?

Ich bin stark involviert in das Geschehen in Afrika. Ich befasse mich in Harvard zum grössten Teil mit afrikanischen Themen. Ich reise auch viel. Kürzlich leitete ich eine Taskforce der Afrikanischen ­Union, welche die Aufgabe hatte, eine 10-Jahr-Strategie für Wissenschaft, Technologie und Innovation zu entwickeln. Im Juni 2014 unterzeichneten die Präsidenten diesen Plan. Ein Teil der Strategie ist, die technische Ausbildung zu verbessern. Da kann ich in Harvard viel ausrichten. Ich kann afrikanische Universitäten mit Kollegen in Harvard, Zürich oder in Grossbritannien vernetzen. Das könnte ich nie, wenn ich an einer afrikanischen Uni arbeiten würde. Ich habe so viel mehr Einfluss.

Das Interview erschien am 3.5.2015 in der SonntagsZeitung

Aufs falsche Pferd gesetzt

Am Anfang von Alzheimer steht das Tau-Eiweiss – doch Pharmafirmen bekämpften jahrelang ein anderes

Schnitt durch ein gesundes Gehirn (rechts) und dasjenige eines Alzheimer-Pateinten (links) Pasieka / SPL / Agentur Focus

Schnitt durch ein gesundes Gehirn (rechts) und dasjenige eines Alzheimer-Pateinten (links) 
Pasieka / SPL / Agentur Focus

Die Schuldigen am geistigen Zerfall schienen ausgemacht: Die «Plaques» im Gehirn von Alzheimer-Patienten – klumpige Ablagerungen von Beta-Amyloid-Eiweissen (Aß) – galten lange als Hauptursache der Demenz­erkrankung. Diverse Pharmafirmen, darunter Roche, Eli Lilly oder Pfizer entwickelten und testeten Wirkstoffe, welche diese Plaques auflösen und den geistigen Zerfall stoppen oder gar rückgängig machen sollten. Doch in grossen klinischen Stu­dien versagten alle diese einst so hoffnungsvollen Medikamente.

Den Grund für das Scheitern könnte nun eine Analyse ­mehrerer Tausend Gehirne verstorbener Demenzpatienten liefern. Der Studie zufolge stehen nicht die Aß-Ab­lagerungen am Ursprung der Demenz, sondern andere Proteine: sogenannte Tau-Tangles oder Neurofibrillen. Das sind Knäuel von Tau-Eiweissen, die normalerweise helfen, das Zellskelett zu stützen, im Gehirn von Alzheimerpatienten aber die zellschädigenden Tangles bilden – und dies schon lange vor den Aß-Ablagerungen. 

Für ihre Studie konnten die US-Forscher auf eine grosse Gehirnbank zurückgreifen. Das Team um Melissa Murray von der Mayo Clinic in Jacksonville, Florida, bestimmte bei den über 3600 Gehirnen die für Alzheimer typischen Aß- und Tau-Ablagerungen, wie sie im Fachblatt «Brain» berichteten. Eine statistische Analyse der so gewonnenen Daten zeigte: Es sind die Tau-Knäuel, die den Verlauf der Demenz exakt voraussagen, nicht die Aß-Plaques.

Da drängt sich die Frage auf: Haben die Pharmafirmen mit ihrer einseitig auf Aß-Ablagerungen fokussierten Strategie aufs falsche Pferd gesetzt? «Das ist eine gute Frage», sagt der Alzheimerforscher Dietmar Thal von der Universität Ulm. «Als Pharmafirma würde ich mich eher breit aufstellen. Einerseits das Amyloid nicht vergessen, und dieses möglichst früh attackieren, aber andererseits auch auf Tau und andere Ziele setzen.»

Das sieht Irene Knüsel ebenso, Alzheimer-Forscherin bei Roche in Basel. Allen Experten sei mittlerweile klar, dass man eine so komplexe Krankheit wie ­Alzheimer nie mit nur einer Therapie heilen könne. Auch Roche stütze sich deshalb in der Forschung breiter ab. Knüsel selbst erforscht die Rolle von Entzündungen bei der Entstehung von Alzheimer. 

Stressfaktoren können die Tau-Eiweisse verändern

Auch wenn die neue Alzheimer-Gehirnstudie aus den USA ein wenig mehr Klarheit über den Beginn der Demenzerkrankung schafft, bleiben noch viele Fragen offen. So ist die Rolle der Plaques nach wie vor unklar. Möglicherweise verschlimmern sie erst in einem späten Stadium der Krankheit den Verlauf, vielleicht sind sie aber auch nur eine Begleiterscheinung der degenerativen Prozesse und per se kaum schädlich. 

Ebenso ungelöst ist die Frage nach der Ursache: Was löst die Veränderungen im Tau-Eiweiss aus, die letztlich dazu führen, dass es die zellschädigenden Knäuel in den Neuronen bildet? Laut Dietmar Thal weiss man aus Experimenten, dass verschiedene Stressfaktoren das Tau-Protein so verändern können, dass es die Knäuel bildet. Dazu zählen Schädel-Hirn-Traumata, Zellgifte, Sauerstoff­entzug oder auch entzündliche Prozesse, wie sie Knüsel bei Roche erforscht. Was ursächlich zur ­Demenz führe, so die Experten, wisse man letztlich aber immer noch nicht.

Klar ist hingegen, dass Alzheimer schon Jahrzehnte vor den ersten klinischen Symptomen beginnt. So fanden deutsche Forscher um Dietmar Thal und Heiko Braak vor vier Jahren in über 2300 Gehirnen aller Alters­klassen schon sehr früh, im Alter von 20, 30 Jahren, Vorboten der Tau-Knäuel. 

Das heisst auch: Zeigen sich bei einem Patienten die ersten geistigen Defizite, ist es für eine Therapie schon viel zu spät. Man brauche unbedingt bessere Methoden zur Frühdiagnose, sagt Thal, um eine Therapie möglichst früh beginnen zu können. «Wenn man rechtzeitig attackiert, kann man den Ausbruch der Krankheit möglicherweise lange hinauszögern.»

Dass diese Strategie funktionieren könnte, zeigen kürzlich präsentierte Resultate der Schweizer Biotechfirma Biogen Idec. In einer kleinen klinischen Studie (Phase Ib) reduzierte ihr Wirkstoff Aducanumab bei den Alzheimerpatienten nicht nur die Anzahl Aß-Plaques, sondern verlangsamte auch den geistigen Zerfall. Dietmar Thal warnt indes vor allzu starker Euphorie, bevor der Wirkstoff nicht an einer grossen Kohorte getestet wurde: «Das haben wir inzwischen gelernt.»

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 12.4.2015

Träumt weiter

Der Wissenschaftsautor Stefan Klein hat ein fantastisches Buch geschrieben über den Schlaf und wie das Gehirn die eigene Rumpelkammer aufräumt und verwaltet 

Quelle: Deutsche Morgenpost

Quelle: Deutsche Morgenpost

Es war ein strahlender Herbsttag, wir wanderten auf einer Alpwiese unterhalb einer hohen Felswand. Ich weiss nicht mehr genau, wer mit dabei war, aber das ist egal. Dann wurde die Wiese immer abschüssiger, plötzlich ging nichts mehr: links die Felswand, rechts senkrecht runter, dazwischen ein ultraschma­ler Weg, kein Seil zum Halten, alles extrem exponiert. Meine Knie zitterten vor Angst, ich konnte nicht weiter. Dann wachte ich auf. 

Ein Traum, und erst noch einer mit einem mir als Akrophobiker (an Höhenangst Leidendem) durchaus bekannten Motiv, hat mich nicht zum ersten Mal an den Rand des Abgrunds geführt. 

Damit bin ich nicht allein. Befragt man Menschen nach den häufigsten Themen in ihren Träumen, gehört weltweit das Fallen (oder die Angst davor) zu den vier am häufigsten genannten Motiven – neben Verfolgungsjagden, Sex und der Erfahrung, etwas immer wieder vergeblich zu versuchen. 80 Prozent aller Menschen würden sich an solche Trauminhalte erinnern, schreibt der Wissenschaftsautor Stefan Klein in seinem neuen Buch «Träume – Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit». 

Die Träume sind keine verschlüsselten Botschaften 

Für die meisten Menschen sind Träume heute aber eher eine Randnotiz. Manchmal registriert man zwar beim Aufwachen: «Ach, da war ja was!», aber viele mögen sich nur selten an die nächtlichen Eska­paden ihres Geistes erinnern und sagen daher: «Ich träume eigentlich nie.» Doch das ist falsch, wie die Traumforschung in den letzten Jahren herausgefunden hat. Vermutlich träumen wir sogar die ganze Nacht, in allen Schlafphasen, schreibt Klein. Mit Träumen verbringe man mehr Zeit als mit allen anderen Tätigkeiten im Leben. 

Mit seinem Buch öffnet Klein dem Leser nicht nur die Tür in eine fantastische Welt von Geschichten und Bildern, die nur einem selbst zugänglich ist, sondern er revidiert auch vieles, was man so über Träume zu wissen glaubt. So träumen wir zwar im sogenannten REM-Schlaf in der zweiten Hälfte des Schlafs komplexer und vermutlich auch intensiver als am Anfang des Schlafs, aber wir träumen eben nicht nur dann, wie man lange gedacht hat. Denn auch in anderen Schlafphasen und vermutlich sogar im Tiefschlaf sehen wir Bilder (wenn auch einfache), hören Geräusche und basteln uns unsere ­eigenen inneren Welten. 

Mit einem zweiten Dogma räumt Klein ebenfalls auf: Die Träume sind keineswegs verschlüsselte Botschaften unerfüllter (sexueller) Wünsche oder Sehnsüchte aus dem Unbewussten, wie es Sigmund Freud vor 114 Jahren mangels besseren Wissens postulierte und wie es die von ihm gegründete Psychoanalyse noch immer auslegt. Träume brauchen keine Deutungen, schreibt Klein, weil sie keine verkleideten Symbole seien. Sie sind nur deshalb oft so bizarr, fantastisch und inkonsistent, weil das ­Bewusstsein im Schlaf ganz anders funktioniert als im Wachzustand. Daher seien Träume letztlich sogar ein Schlüssel zum Geheimnis des menschlichen Bewusstseins. 

Der Schlaf ist jedenfalls keineswegs der kleine Bruder des Todes, wie es gern heisst. Denn das ­Gehirn durchläuft dabei Phasen unterschiedlicher Aktivität, und dementsprechend wechseln auch die Bewusstseinszustände. Klein vergleicht das mit einer Zwiebel. Das Wachbewusstsein entspricht dabei der äussersten Schicht. Im REM-Schlaf, der nächsten Schicht, machen wir Erfahrungen, haben Gefühle und sind als «Ich» noch präsent, allerdings ohne Erinnerungen und Zeitempfinden. In der innersten Schicht, dem Tiefschlaf, sehen wir nur noch Licht, Farben, elementare Dinge – das «Ich» ist aber verschwunden. 

Das Bewusstsein, schreibt Klein, sei nie eine Frage von alles oder nichts. Von den extremen Polen – den äusserst reduzierten Erlebnissen im Tiefschlaf bis zur vollen Konzentration eines Kletterers in der Felswand – durchlaufen wir alle Phasen der geistigen Präsenz. 

Was im Gehirn passiert, wenn wir uns abends ins Bett legen und einschlafen, weiss man heute dank modernen, bildgebenden Verfahren wie der Kernspintomografie (MRI) ziemlich genau. Eine zent­rale Rolle spielt dabei der Thalamus, eine nussgrosse Schaltstelle zwischen Aussenwelt, Grosshirnrinde und Stammhirn. Beim Einschlafen kappt der Thalamus zuerst die Verbindungen zu den Sinnesorganen, den Augen und Ohren – dermassen abgeschottet sind wir quasi taub und blind. ­Teile der Grosshirnrinde bleiben noch ein paar Minuten länger wach, das Bewusstsein schaltet seine Lichter erst nach und nach aus. 

Zur Ruhe kommt das Hirn deswegen aber nicht. Der Gesamtenergieverbrauch sinke beim Einschlafen nur marginal, schreibt Klein, einzelne Teile des Gehirns brauchen sogar mehr Energie im Schlaf. 

Das Gehirn führt ein Eigenleben, auch Blinde träumen in Bildern 

Das heisst: Im Schlaf macht das Gehirn das, was es sowieso am liebsten tut, nämlich sich mit sich selbst beschäftigen. Nur ein Bruchteil aller Gehirnzellen stehen mit der Aussenwelt in Kontakt, schreibt Klein, der grosse Rest macht Innendienst – selbst wenn wir wach sind. Mehr als 80 Prozent seiner Energie verwendet das Gehirn für Aufräum-, Verwaltungs- und Koordinationsarbeiten. Unser Denk­organ sei kein Glaspalast mit grossen Fensterfronten, schreibt Klein und bezieht sich dabei auf den kolumbianischen Hirnforscher Rodolfo Llinás von der New York University, sondern eine mit ein paar Gucklöchern versehene Kammer. 

Dass unser Gehirn ein weitaus frivoleres Eigenleben führt, als wir manchmal gerne glauben, belegen auch Geschichten von Menschen, die von Geburt an blind sind. Auch sie träumen offenbar in Bildern, wie portugiesische Forscher in ­einer aufsehenerregenden Studie zeigten. Als die Blinden ihre Traumbilder auf Papier kritzelten, konnten Experten die Zeichnungen nicht von denen sehender Menschen unterscheiden. 

Im Traum scheinen also alle Menschen gleich zu sein. Alle ­sehen Gegenstände, Landschaften, Menschen, hören Stimmen oder Geräusche, treiben Konversation, auch wenn sie im wachen Leben nichts hören oder sehen. 

Und noch etwas ist bei allen gleich: Die Träume sind von Emotionen gesteuert, von Angst oder Lust, von Ärger oder Scham. Emotionen gehören laut Klein zu den elementarsten Regungen des Gehirns, sie sind nicht nur die Grundlage allen bewussten Erlebens, sondern auch die Basis aller Träume. 

Die Emotionen bestimmen die Trauminhalte, schreibt Klein, und nicht umgekehrt. Wer positiv gestimmt ist, träumt zum Beispiel von einem Schäferstündchen mit einer lange Verflossenen, wem die eigene Lage oder Zukunft aber gerade Sorgen bereitet, der muss im Traum eine schwierige Prüfung absolvieren, auf die er oder sie viel zu schlecht vorbereitet ist. Die Angst oder die Lust holen sich Bilder und Geschichten, die teils schon jahrzehntelang in den grauen Zellen gespeichert sind, und basteln daraus einen zur gerade herrschenden Emotion passenden Traum. Ich selbst hatte meinen eingangs erwähnten Höhenangsttraum am Vorabend einer längeren Recherchereise. In solchen ­Situationen bin ich jeweils ziemlich nervös und besorgt. 

Die Emotionen führen also Regie im Traum. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Vernunftzentrale des Gehirns, der präfrontale Kortex (PFC), der im Wachzustand die Gefühlsregungen dämpft und einordnet, sich im Schlaf verabschiedet hat. Deshalb erscheint uns manches, was uns nächtens durch den Kopf geht, so unlogisch – und daher haben Traumdeuter wohl jahrhundertelang nach versteckten Botschaften gesucht. 

Es lohnt sich, dieses Drittel der Lebenszeit festzuhalten 

Dass Stefan Klein die Traumwelt ein Stück weit entmystifiziert, tut der Faszination für die nächtlichen Eskapaden keinen Abbruch. Im Gegenteil. Das spannend und lebendig geschriebene Buch – Klein ist derzeit einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Wissenschaftsautoren – ist ein eigent­liches Plädoyer, sich selbst vermehrt mit den eigenen Träumen zu befassen und so eine neue Seite seiner Existenz kennenzulernen. Wäre es nicht schade, fragt Klein, wenn Sie ein Drittel Ihrer Lebenszeit versäumen würden? 

Damit man das nicht tut, liefert Klein am Schluss des Buchs eine kleine Anleitung zum bewussteren Träumen. Allein schon, wenn man sich beim Einschlafen vornehme, sich die Träume zu merken, seien diese präsenter. Es helfe auch, beim Aufwachen kurze Notizen zu machen, ein Traumtagebuch zu führen. Und man müsse die Träume ernst nehmen. «Denn alles, was Sie heute Nacht im Schlaf erlebten, entsprang ihrem eigenen Geist. Sie waren Publikum und Künstler zugleich. Sie erfanden ein ganzes Universum und gingen in dieser perfekten Illusion auf.» 

Stefan Klein, «Träume – Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit», S. Fischer, ca. 30 Franken

Diese Rezension erschien am 23. November 2014 in der SonntagsZeitung

Potente Spritze gegen das Cholesterin

Am Jahreskongress der American Heart Association Mitte November in Chicago wurden neue äusserst wirksame Blutfettsenker vorgestellt. Ob die sogenannten PCSK9-Hemmer auch das Risiko für Herzerkrankungen reduzieren können, müssen sie aber erst noch beweisen. 

Chicago

Mehr als 17 000 Teilnehmer, über 5000 Präsentationen in fünf Tagen – wer am Jahreskongress der American Heart Association (AHA) letzte Woche in Chicago nicht in der Masse untergehen wollte, musste sich etwas einfallen lassen. Am auffälligsten taten dies die Pharma- und Biotechfirmen Sanofi/Regeneron sowie Amgen. Sie waren überall präsent, als Sponsor von Symposien, auf der Konferenz-App, ja sogar auf der Schlüsselkarte fürs Hotelzimmer und auf den «Do not disturb»-Türhängern. 

So viel Aufwand wäre gar nicht nötig gewesen, denn an dem AHA-Kongress drehte sich sowieso fast alles um die neuen Medikamente der beiden Konkurrenten: sogenannte PCSK9-Hemmer. Diese Arzneien können die Blutfettwerte von besonders gefährdeten Patienten massiv senken. Sie könnten in den nächsten Jahren die Therapie von zu hohen Cholesterinwerten neu definieren. 

In Chicago und auch bei Schweizer Experten herrschte denn auch grosse Zuversicht. «PCSK9-Hemmer könnten einen grossen Fortschritt bringen», sagt Arnold von Eckardstein, Präsident der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (Agla) der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie und Direktor des Instituts für Klinische Chemie am Unispital Zürich. «Das Potenzial ist riesig.» 

Trotz aller Euphorie ist derzeit noch Zurückhaltung angesagt, denn die wichtigsten Studien laufen noch. Bislang konnten die verschiedenen Forscherteams erst zeigen, dass die neuen Arzneien enorm potente Cholesterinsenker sind – deutlich besser als die gängigen Statine. Ob sie auch das Risiko für Herzinfarkte, Hirnschläge und Herztod mindern können – die «harte Währung» in der Kardiologie –, müssen diese grossen Patientenstudien noch beweisen. 

Dass die neuen PCSK9-Hemmer scheitern könnten, daran glaubt aber fast niemand. Zu solide sind die Daten, die mehrere Forscherteams in Chicago präsentierten. Die Wirkstoffe Alirocumab (Sanofi/Regeneron) und Evolocumab (Amgen) wurden beide an verschiedenen Patientengruppen getestet und dabei mit Statinen und anderen cholesterinsenkenden Medikamenten verglichen. Durchs Band schnitten die PCSK9-Senker besser ab, sie reduzierten das schädliche LDL-Cholesterin deutlich stärker, zum Teil um bis zu 70 Prozent (alleine) oder um rund 50 Prozent zusätzlich zur Senkung durch die Statine. Mit Statinen kann man die LDL-Werte um maximal 40 bis 50 Prozent senken. 

Erhöhte Cholesterinspiegel sind eine eigentliche Volkskrankheit. Rund 750 000 Schweizerinnen und Schweizer schlucken täglich Statine, um ihre Blutfettwerte zu senken. Denn zu viel LDL-Cholesterin erhöht das Risiko für Arteriosklerose und damit auch jenes für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Idealerweise sollte der LDL-Wert unter 2,5 Millimol pro Liter (mmol/l) liegen, bei besonders gefährdeten Personen unter 1,8 mmol/l. Zum Vergleich: Der Durchschnittsschweizer hat laut von Eckardstein einen Wert von 3,5 mmol/l: «Mindestens die Hälfte der Hochrisikopatienten erreicht auch mit einer aggressiven Statin-Therapie die Zielwerte nicht.» 

Die Nebenwirkungen fallen milder aus als bei den Statinen 

Neue Therapiestrategien sind daher gefragt. Abseits von den PCSK9-Hemmern gab es diesbezüglich in Chicago weitere «good news». In einer vom Hersteller Merck gesponserten Studie namens «IMPROVE-IT» konnte ein internationales Forscherteam zeigen, dass der Wirkstoff Ezetimib in Kombination mit einem Statin die LDL-Werte stärker senken kann als das Statin allein. Und vor allem: Das Kombipräparat reduziert auch das Risiko für Herz­infarkte, Schlaganfälle oder Herztod deutlicher als das Statin allein – ohne zusätzliche Nebenwirkungen. Das Mittel (Inegy) ist in der Schweiz zugelassen. 

«Patienten, die ein hochdosiertes Statin nicht vertragen, können nun auf ein niedriger dosiertes Statin plus Ezetimib wechseln», sagt der Kardiologe Neil Stone von der Northwestern University in Chicago, der die Studie kommentierte. Ezetimib hemmt die Cholesterinaufnahme im Darm, was den Cholesterinspiegel indirekt senkt. 

Die Präsentation dieser Studie wurde in Chicago als Meilenstein gefeiert. Denn sie bestätigt die LDL-Hypothese: je tiefer die LDL-Werte, desto geringer das Herz­risiko, «the lower the better». Es lohne sich, zu hohe Blutfettwerte aggressiv zu bekämpfen, so der Tenor an der Konferenz, zumal bis heute von sehr tiefen Werten keine Komplikationen bekannt seien. 

Vor allem stärkte diese Studie aber die Zuversicht in Bezug auf die PCSK9-Hemmer. Denn diese senken die LDL-Werte so effizient wie bislang keine andere Wirkstoffklasse. Anders als die Statine, welche die körpereigene Cholesterinsynthese hemmen, sorgen PCSK9-Hemmer dafür, dass LDL vermehrt in die Leber aufgenommen und dort abgebaut wird, indem sie den Abbau von LDL-Rezeptoren verhindern. 

Quelle: Nature

Quelle: Nature

Der verbreitete Optimismus bezüglich der PCSK9-Hemmer stützt sich aber nicht nur auf deren potente Effekte auf die LDL-Spiegel, sondern auch darauf, dass die bislang beobachteten Nebenwirkungen milder ausfallen als bei den Statinen. 

In Chicago präsentierten Forscherteams die Resultate von sechs Teilstudien von «Odyssey», einer gross angelegten Untersuchung zur Effizienz und Sicherheit von Alirocumab. Bei keiner Teilstudie traten schwerwiegende Nebenwirkungen auf. Vereinzelt bildeten Testteilnehmer Abwehrstoffe gegen den Wirkstoff, ohne aber dessen Wirksamkeit zu beeinflussen. 

Die Kosten dürften zwölfmal höher sein als bei Statinen 

Nur: Oft treten Probleme mit neuen Medikamenten erst später auf. Es sei daher Zurückhaltung geboten, solange keine Langzeitdaten zur Sicherheit vorliegen und die klinische Wirksamkeit nicht bewiesen sei, sagte die Kardiologin Karol Watson von der University of California, Los Angeles, die eine der Teilstudien kommentierte. 

Läuft alles wie geplant, sollten die Resultate zur klinischen Wirksamkeit von Alirocumab und Evelocumab (und einem dritten Wirkstoff, Bococizumab von Pfizer) bis 2017 vorliegen. Von den neuen Mitteln könnten dann in erster Linie jene Patienten profitieren, die an einer familiären Hypercholesterinämie leiden und daher erblich bedingt einen sehr hohen Cholesterinspiegel aufweisen. Etwa einer von 200 Menschen in der Schweiz ist davon betroffen. Doch auch jene geschätzten 10 bis 25 Prozent der Patienten, die Statine schlecht oder gar nicht vertragen, wären Kandidaten für eine Therapie mit PCSK9-Hemmern. 

Bleiben zwei Fragen: Erstens, werden die Patienten bereit sein, sich alle zwei oder vier Wochen den Wirkstoff selbst zu spritzen? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Zweitens, wie teuer wird eine Behandlung mit PCSK9-Hemmern? Antikörper sind alles andere als Schnäppchen. Möglicherweise kostet eine Behandlung mit Alirocumab oder Evolocumab pro Monat mehr, als eine Statin-Therapie pro Jahr gekostet hat, bevor die Statine als Generika erhältlich waren. Fest steht, dass die Kosten ein grosses Problem sein werden. Darüber sind sich alle einig. 

Dieser Artikel erschien am 23. Nov. 14 in der SonntagsZeitung.

Und sie leben eben doch ...

Viele Dinosaurier konnten fliegen wie ihre Nachkommen, die Vögel. Und alle hatten Federn

Ein Archaeopteryx auf der Jagd (Illustration: D. Eskridge/Stocktrek Images/Getty)

Ein Archaeopteryx auf der Jagd (Illustration: D. Eskridge/Stocktrek Images/Getty)

Muskelbepackte Körper, furchterregende Gebisse, riesige Krallen und nackte Haut – dieses angsteinflössende Bild von fleischfressenden Dinosauriern wie dem Tyrannosaurus rex oder dem Velociraptor hat uns Steven Spielberg vor gut 20 Jahren mit seinen «Jurassic Park»-Filmen wie kein anderer eingeprägt. Vieles davon mag stimmen, doch in einem Punkt irrte Spielberg: Nackte Haut war in der Trias-, Jura- und Kreidezeit, als die Dinosaurier die Erde beherrschten, kaum zu sehen. «Vermutlich hatten alle Dinosaurier eine Art Federn», sagt der Paläontologe und Dinosaurierexperte Stephen Brusatte von der University of Edinburgh.

Einen Vorwurf kann man Spielberg wegen der unzulänglichen Darstellung der Dinosaurier indes nicht machen. 1993, als der erste «Jurassic Park»-Film ins Kino kam, waren Federn in der Dinoforschung noch kein Thema. Erst 1996 entdeckten chinesische Paläontologen im Nordosten des Landes erstmals Überreste eines Dinosauriers mit Federn. «Sinosauropteryx» nannten sie den Sensationsfund, der die ganze Paläontologenzunft durchschüttelte. Seither fanden die Forscher mindestens 40 weitere Dinosaurierarten, die einst ein Federkleid trugen, darunter auch ein naher Verwandter des T. rex und diverse vogelähnliche Dinosaurier, die möglicherweise sogar fliegen konnten.

Die meisten Nachweise dafür, dass Dinos ein Federkleid trugen, gibt es bei den zweibeinigen räuberischen Theropoden, ­einer Gruppe der sogenannten Echsen­beckensaurier (siehe Grafik), zu denen T. rex ebenso gehört wie alle Vorfahren der heutigen Vögel. Doch sogar bei den weit entfernt verwandten Vogelbecken­sauriern gab es anscheinend Arten, die ihren Körper mit ­einem primitiven Flaum zierten, etwa der Pflanzenfresser Kulindadromeus. Da somit ­Federn in allen Ästen des Dinosaurier-Stammbaums auftauchen, gehen Forscher heute davon aus, dass schon der gemeinsame Vorfahre aller Dinosaurier eine Art Urfedern hatte (siehe Grafik links). Das Gefieder wurde also vor über 225 Millionen Jahre erfunden.

Zum Fliegen, das steht fest, dienten die Protofedern am Anfang nicht. «Vermutlich hielten Federn die damaligen Dinosaurier warm», sagt Brusatte. Es könne allerdings auch sein, dass die Dinos diese für Balz­rituale nutzten oder um Rivalen zu verscheuchen. «Erst viel später erwiesen sie sich nützlich fürs Fliegen.»

Ein Anchiornis wäre kaum von einem heutigen Vogel zu unterscheiden

Viel später, das war vor gut 160 Millionen Jahren, gegen Ende des Jura-Zeitalters. Damals begann eine Gruppe «geschrumpfter» Dinosaurier sich rasant zu verbreiten, die sogenannten Paraves, oft nicht grösser als heutige Tauben oder Raben, mit Flügeln und teils langen Schwanzfedern (Konturfedern, siehe Grafik). Ob sie tatsächlich schon fliegen konnten, darüber debattieren Experten aber noch immer. «Vermutlich konnten sie zumindest gleiten oder mit den Flügeln flattern und hüpfen», sagt Brusatte.

Die meisten vogelähnlichen Dinosaurier entdeckte man bislang im heutigen China. Den pfaugrossen Aurornis etwa, den kleineren Anchiornis mit seinen schwarz-weiss gestreiften Flügeln und dem roten Kamm (dies legen ­Funde von Pigmentkörperchen nahe) oder den ebenfalls nur rabengrossen Xiaotingia. Sie alle lebten vor rund 160 Millionen Jahren, also etwa zehn Millionen ­Jahre vor dem als Urvogel geltenden, in Deutschland entdeckten «Archaeopteryx».

Jüngster Fossilienfund eines Archaeopteryx mit perfekt erhaltenen Federabdrücken. Quelle: Nature

Jüngster Fossilienfund eines Archaeopteryx mit perfekt erhaltenen Federabdrücken. Quelle: Nature

Die Frage, welcher der vogelähnlichen ­Dinosaurier letztlich am Ursprung der Evolution der Vögel stand, ist aus heutiger Sicht kaum zu beantworten. Sie würden sich alle sehr stark ähneln und sich nur in winzigen Details unterscheiden, sagt Brusatte. «Würden Sie heute einem Anchi­ornis begegnen, würden Sie ihn vermutlich für einen Vogel halten.» Der Stammbaum sei daher keineswegs in Stein gemeisselt. «Um ehrlich zu sein, ist die Unterscheidung eher ­willkürlich.»

Vor wenigen Jahren wackelte sogar die Position von «Archaeop­teryx» im Stammbaum. Der 1861 im bayrischen Solnhofen entdeckte Urvogel schien 2011 seinen Platz an Xiaotingia abgeben zu müssen. «Eine Ikone fällt vom Sockel» oder «Archaeopteryx kein Vogel» lauteten damals die Schlagzeilen. Eine detaillierte Analyse unzähliger Funde vogel­ähnlicher Dinosaurier hat den Fossilienstar nun aber rehabilitiert. Wie Stephen Brusatte und Kollegen kürzlich im Fachblatt «Current Biology» berichteten, sitzt Archaeopteryx vermutlich doch an der Basis des Vogel-Astes.

Gemeinsamkeiten sind das Gabelbein und die Luftsäcke zur Atemregulation

Mittlerweile kennen Paläontologen so viele verschiedene vogelähnliche Dinosaurierspezies, dass im Stammbaum ein regelrechtes Gedränge herrscht. «Anatomisch betrachtet bilden Vögel ein Kontinuum von Millionen von Jahren in der Theropoden-Evolution», schreiben Brusatte und Co. Der Übergang von Dinosauriern zu Vögeln sei mittlerweile so gut dokumentiert, dass er laut Brusatte als «eines der besten Beispiele für die Evolution gilt».

Streng genommen, sind die Dinosaurier also keineswegs ausgestorben, sondern sie leben als Vögel bis heute weiter. Dies belegen neben den Federn weitere Gemeinsamkeiten. So besitzen von den heute lebenden Wirbeltieren nur Vögel ein gabelförmiges Schlüsselbein, ein «Gabelbein» – wie einst die Dinosaurier. Das Gleiche gilt für die Luftsäcke, die der Atemregulation und der Stimmbildung dienen.

Neben dem Stammbaumast, der zu den heutigen Vögeln führte, entwickelten sich auf parallelen Ästen aber noch lange Zeit vogelähnliche Dinosaurier weiter. Microraptor zum Beispiel war ein kleiner vogelähnlicher Dinosaurier mit sehr langem Schwanz, der vor etwa 130 Millionen Jahren auf vier Flügeln durch die Lüfte segelte. Auch der aus «Jurassic Park» bestens bekannte Velociraptor jagte nicht (nur) zu Fuss, sondern nutzte vermutlich auch den Luftraum. Zudem war er kein monsterartiger Zwei-Meter-Hüne, wie im Film dargestellt, sondern ein albatrosgrosser gefiederter Dino.

Insofern liegt der Film zumindest in ­einem Punkt fast richtig. Der vom Park­eigentümer John Hammond angeheuerte Paläontologe Alan Grant war nämlich ein Verfechter der Idee, dass Vögel von den Velociraptoren abstammen. Heute weiss man, dass Velociraptor und Urvogel beide zur Gruppe der Paraves gehören.

Grant war von seiner Idee so überzeugt, dass er in jener Szene, als er sich zusammen mit Lex und Tim, den beiden Enkeln von Hammond, vor einer Herde galoppierender Galliminus-Dinos in Sicherheit bringen musste (siehe Bild), zu den Kindern sagte: «Sie bewegen sich wie ein Vogelschwarm, der sich einem Fressfeind entziehen will.» Das gelingt nicht ganz. Ein Galliminus – ebenfalls ein Theropode – fällt direkt vor den Augen von Grant und den Kindern einem T. rex zum Opfer. Im richtigen Leben wäre er dem Räuber vielleicht davongeflattert.

Gefiederte Dinosaurier im ganzen StammbaumEs war eine Sensation, als chinesische Forscher 1996 in der Provinz Liaoning den ersten gefiederten Dinosaurier entdeckten – Sinosauropteryx. Seither haben Paläontologen Dutzende weiterer Dinosaurier arten m…

Gefiederte Dinosaurier im ganzen Stammbaum

Es war eine Sensation, als chinesische Forscher 1996 in der Provinz Liaoning den ersten gefiederten Dinosaurier entdeckten – Sinosauropteryx. Seither haben Paläontologen Dutzende weiterer Dinosaurier arten mit Federn gefunden, vor allem fleischfressende Theropoden und da besonders viele vogelähnliche Paraves. Einen überraschenden Fund vermeldeten belgische Forscher diesen Sommer: Sie hatten einen gefiederten Vogelbeckensaurier entdeckt, Kulindadromeus. Damit tauchen in allen Hauptästen des Dinosaurier- Stammbaums gefiederte Exemplare auf. Was bedeutet: Schon der gemeinsame Vorfahre aller Dinosaurier hatte vermutlich Federn.

10 Tipps für ein gesundes Gehirn

Unser Hirn ist wie ein Muskel. Wenn man es nicht benutzt, verkümmern seine Zellen und Verbindungen. Wird es ­dagegen ­gefordert, blüht das Denkorgan richtig auf. Nik Walter hat die erfolgversprechendsten Rezepte für einen scharfen Geist und einen fitten Verstand zusammengestellt

Illu Gehirn

Spielen Sie ein Musikinstrument

Es gibt wohl kaum eine Tätigkeit, die das Gehirn dermassen als Ganzes fordert wie das Spielen eines Musikinstruments. Dabei lernt man die Bewegungen der Finger zu kontrollieren und koordinieren, bei Blasinstrumenten auch die Atmung, zudem müssen die Melodien und Rhythmen analysiert und kombiniert werden, damit wir eine musikalische Erfahrung machen können. Für alle diese Prozesse arbeiten unzählige Hirnareale zusammen, und zwar in beiden Hirnhälften. Das zahlt sich aus. Profimusiker haben nicht nur mehr Hirnmasse, sondern auch mehr Verbindungen zwischen den Nervenzellen als Nichtmusiker. Wer zehn Jahre oder länger ein Instrument spielt, schneidet zudem bei Gedächtnistests und beim Benennen von Objekten besser ab als jemand, der weniger lang Musik macht, und viel besser als Nichtmusiker. Vor allem aber scheint Musik- unterricht in jungen Jahren noch Jahrzehnte später vor geistigem Verfall zu schützen. Selbst, wer erst als Betagter ein Instrument lernt, tut seinem Gehirn etwas Gutes.

Füttern Sie Ihr Gehirn

Dies vorneweg: Auch mit der besten Ernährung werden Sie nicht schlauer. Allerdings gibt es schon ein paar Lebensmittel respektive Inhaltsstoffe, die besonders gut geeignet sind, das Gehirn zu «schmieren», und die möglicherweise sogar auch darüber hinaus positive Effekte haben. Dazu zählen Nahrungsmittel, die reich sind an sogenannten Omega-3-Fettsäuren, etwa Lachs oder Sardinen, Nüsse oder Leinsamen. Sie helfen, die Zellmembranen im Gehirn geschmeidig zu halten. Diverse Studien deuten zudem an, dass Omega-3-Fettsäuren auch den geistigen Verfall verlangsamen und möglicherweise auch die Bildung neuer Nervenzellen anregen. Vermutlich ebenfalls wertvoll fürs Gehirn sind sogenannte Polyphenole. Diese Substanzen findet man in Heidelbeeren (auch «brainberries» genannt), Curry (Curcumin), Rotwein (Resveratrol) oder dunkler Schokolade (Flavonoide). Die genaue Wirkungsweise der Polyphenole kennt man nicht, möglicherweise regen sie die Bildung von Wachstumsfaktoren an oder fördern die Durchblutung.

Treiben Sie Sport

Wer sich bewegt, tut Gutes für den Körper – aber auch für den Geist. Mittlerweile belegen zahlreiche Studien, dass regelmässiges körperliches (Ausdauer)-Training ­letztlich auch ein Hirntraining ist, und zwar unabhängig vom Alter. So regt Sport die Bildung neuer Hirnzellen an, vor allem im Hippocampus, der zentralen Gedächtnis-Schaltstelle; Bewegung vermindert auch chronische Entzündungen und die Insulinresistenz. Das bedeutet: Wer regelmässig Sport treibt, ist geistig fitter, hat ein besseres Gedächtnis und kann den geistigen Abbau im Alter verlangsamen.

Pflegen Sie soziale Kontakte

Wer häufig andere Menschen trifft und sich mit ihnen austauscht oder wer gerne und viel telefoniert, der hält sein Hirn auf Trab. Soziale Interaktionen sind eine Form von mentalem Training, denn mit Menschen umzugehen, kann recht herausfordernd sein. Ähnlich wie bei anderen geistigen Stimulationen, etwa beim Lesen oder Rommé-Spielen, schützt man sein Hirn beim zwischenmenschlichen Austausch. Wer nur zehn Minuten pro Tag mit einer anderen Person spricht, verbessert laut einer US-Studie die Gedächtnisleistung.

Dopen Sie Ihr Hirn (oder besser wohl doch nicht)

Diverse gängige Medikamente sind «psychoaktiv», sie beeinflussen also direkt den Stoffwechsel im Gehirn. Einige davon sollen helfen die geistige Leistung zu steigern, indem man sich besser konzentrieren oder sich Dinge besser merken kann. Solche Mittel – umgangs­sprachlich als Gehirndoping oder kognitive Verbesserer bekannt – sind daher, besonders in den USA, vor Prüfungen bei Studierenden beliebt. In diese Kategorie fallen Psychostimulantien wie etwas das ADHS-Medikament Ritalin oder illegale Drogen wie Speed. Sie erhöhen die Menge des Hirnbotenstoffs Dopamin. Vermutlich ähnlich funktioniert der Wachmacher Modafinil, ebenfalls sehr beliebt. Doch auch Antidepressiva, Demenzmedikamente, Betablocker und auch Ginkgo-Extrakte werden gerne als Hirn-Stimulantien eingesetzt. Ärzte raten aber Gesunden von den leistungsfördernden Medikamenten ab. Denn die möglichen Nebenwirkungen überwiegen in der Regel den potenziellen Nutzen. Dazu zählen Schlaflosigkeit, Ängstlichkeit, Kopfschmerzen, Depressionen und sogar Psychosen. Vor allem aber kennt man die Langzeitfolgen der stimulierenden Medikamente auf ein gesundes Gehirn nicht.

Schlafen Sie genügend

Ausreichend Schlaf ist für das Funktionieren des Gehirns absolut zwingend. Denn im Schlaf ruhen die Hirnzellen nicht etwa, sondern sie sind teilweise sogar höchst aktiv. Vor allem Neuronen im Hippocampus arbeiten auf Hochtouren. Diese seepferdchenförmige Struktur im Schläfenlappen ist dafür zuständig, dass Inhalte aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis verschoben werden. Und das passiert im Schlaf. Vor allem beim Lernen sollte man also auf genügend Schlaf achten. Schon ein kurzer Mittagsschlaf hilft übrigens, dass man sich danach an das vorher Gelernte besser erinnert.

Lernen Sie ein Leben lang (Fremdsprachen)

«Use it or lose it» – nach diesem Motto funktioniert auch das Gehirn: «Benütze es, oder verliere es.» Ist das Gehirn aktiv, produziert es ständig neue Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Das hilft dem Denkapparat, Inhalte besser abspeichern und wieder abrufen zu können. Besonders aktiv ist das Hirn, wenn es etwas Neues lernt, etwa ein neues Handwerk, eine Sportart oder vor allem: eine Fremdsprache. Zahlreiche Studien deuten sogar darauf hin, dass das Erlernen einer Fremdsprache das Hirn schützt, indem es etwa den Alterungsprozess verlangsamt. So schneiden Menschen, die zwei Sprachen beherrschen, bei kognitiven Tests besser ab und entwickeln im Schnitt erst vier bis fünf Jahr später Alzheimer als Menschen, die nur ihre Muttersprache beherrschen. Der IQ spielt dabei keine Rolle, auch nicht, in welchem Alter man eine zweite Sprache lernt.

Spielen Sie Action-Videogames

Dass man Shooter-Games auf der Liste der Dinge findet, mit denen man das Gehirn auf Vordermann bringen kann, überrascht auf den ersten Blick. Doch zumindest teilweise ist das der Fall. Wer regelmässig Action-Videogames wie «Medal of Honor» oder «Call of Duty» spielt, verbessert die Aufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis, ebenso wie das räumliche Vorstellungsvermögen. Dies haben Forscher der Universität Genf in mehreren Experimenten mit unerfahrenen und erfahrenen Computerspielern herausgefunden. Shooter- Games sind vermutlich sogar effizienter also so manches kommerzielle Gehirnjogging-Programm (siehe links).

Trinken Sie Kaffee

Koffein ist das weltweit am häufigsten konsumierte Hirnstimulans. Es blockiert den dämpfenden Gehirn- Botenstoff Adenosin und fördert so die Ausschüttung von stimulierenden Botenstoffen wie Dopamin. Kurzfristig wirkt Kaffee daher leistungsfördernd, das braune Getränk verbessert die Stimmung, das Gedächtnis und generell die kognitiven Leistungen. Auch langfristig scheint Kaffee positive Effekte aufs Gehirn zu haben. Es gibt Hinweise darauf, dass Menschen, die regelmässig Kaffee trinken, seltener an Parkinson und Demenzleiden wie Alzheimer erkranken. Eine Studie von Forschern der Harvard University kam zudem zum Schluss, dass Frauen, die regelmässig Kaffee trinken, 20 Prozent seltener an Depressionen erkranken als Kaffee-Abstinente. Aber Achtung: Koffein ist eine psychoaktive Substanz (siehe Hirndoping) und hat als solche auch Nebenwirkungen, zum Beispiel leichte Schlaflosigkeit, erhöhte Herzfrequenz und Kopfschmerzen – vor allem bei Kaffee-Entzug.

Halten Sie Ihre grauen Zellen auf Trab

Wenn man einen Muskel nicht benützt, verkümmert er ziemlich schnell. Das Gleiche gilt fürs Hirn. Halten Sie also Ihre grauen Zellen auf Trab: Lesen Sie Bücher oder Zeitungen (am besten natürlich die Wissen-Seiten in der SonntagsZeitung), reisen Sie, putzen Sie die Zähne mit ihrer schwachen Hand, besuchen Sie Museen, rechnen Sie im Kopf (anstatt mit dem Smartphone), gehen Sie tanzen, spielen Sie Schach oder lösen Sie Sudokus oder Kreuzworträtsel. Und machen Sie vor allem von all dem etwas, fordern Sie Ihr Hirn auf verschiedene Weise! Intelligenter wird man damit in der Regel zwar nicht, aber wer bis ins Alter geistig aktiv bleibt, kann zum Beispiel das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, deutlich mindern.

 

Schädlich oder allenfalls nutzlos

Alkoholexzesse oder Zucker muss man meiden. Ob Meditation hilft, ist umstritten

Neben all den Tätigkeiten, mit denen man seinem Gehirn etwas Gutes tun kann (s. rechts), gibt es auch etliche andere Dinge, die unserem Denkorgan nicht viel nützen oder gar schaden. Zu letzter Kategorie zählen ­diverse Vertreter aus der Sparte ­Lebensmittel, etwa ­Zucker. Wer zu viel Süssigkeiten oder eben Zucker konsumiert, erhöht nicht nur sein Risiko für Herzleiden, Diabetes und Krebs, sondern beeinträchtigt auch das Funktionieren des Gehirns, etwa des Gedächtnisses.

Schlecht fürs Hirn sind definitiv auch Alkoholexzesse. Wer sich regelmässig die Birne volllaufen lässt, hat eine verminderte Aufmerksamkeit, ein reduziertes Gedächtnis und trifft schlechtere Entscheidungen. Zudem riskieren Binge­trinker einen beschleunigten geistigen Verfall später im Leben.

Ebenfalls auf die Negativliste fürs Gehirn gehören frittierte Speisen, wenn sie übermässig konsumiert werden, und Junkfood ganz allgemein. Aus Tierexperimenten weiss man, dass schon fünf Tage Junkfood zu erheblichen Gedächtnisproblemen ­führen kann. Ob dies auch beim Menschen der Fall ist, sei dahingestellt, aber man muss sich ja nicht gleich selber zum Versuchskaninchen machen.

Gehirnjogging macht nicht intelligenter

Nicht schädlich, aber auch nicht in dem Ausmasse nützlich, wie oft und gern propagiert, ist das sogenann­te Gehirnjogging. Mittlerweile buh­len unzählige kommerzielle Anbieter mit Slogans wie «Lassen Sie Ihr Gehirn wachsen» (Neuronation) oder «Erhöhen Sie Ihre Gehirnleistung» (Memorado) um die Gunst all jener, die sich von solchen Programmen einen höheren IQ oder ein Supergedächtnis erhoffen.

Keine Frage: Wer gängige Gehirnjoggingaufgaben wie Klötzchen sortieren, Gleichungen lösen oder Wörter erkennen löst, der ­trainiert sein Hirn. Das schadet bestimmt nicht, sondern gehört in die Kategorie «Halten Sie Ihre graue Zellen auf Trab» bei den «10 Tipps für ein gesundes Gehirn». Nur wird man mit solchen Übungen zwar immer besser im Klötzchen sortieren oder Wörter erkennen, aber nicht generell intelligenter (wie es Gehirnjogginganbieter oft suggerieren).

Intelligenter würde man, wenn es einen «fernen Transfer­effekt» gäbe. Dann könnte man zum Beispiel dank Übungen, welche die Konzentrationsfähigkeit steigern, auch kreativer schreiben. Nur: Bislang konnte noch keine unabhängige wissenschaftliche Studie einen solchen fernen Transfereffekt beo­bachten, wie der Hirnforscher Henning Beck in seinem neuen Buch «Hirnrissig» schreibt (siehe unten): «Es klappt also nicht, erst Obst und Gemüse am Computer in Kästchen zu sortieren und sich dann im Supermarkt besser zurechtzufinden.»

Unklar ist auch, ob man mit ­Meditation seine Hirnleistungen steigern kann. Die Datenlage spricht eher dagegen. So fand 2007 eine Analyse von über 800 Medita­tionsstudien keine Hinweise für kognitive Verbesserungen. Möglicherweise verändert Meditation das Gehirn nur kurzfristig. Diese Effekte verschwinden aber wieder, wenn man aufhört zu meditieren.

Ähnlich ist es mit der Handschrift. Diverse Studien deuten an, dass Handschrift mehr Gehirn­areale beschäftigt als simples Tippen am Computer. Allerdings steht der Beweis für einen nachhaltigen Nutzen der Handschrift fürs Gehirn noch aus.

 

Zahlen und Fakten

10 Prozent Dass wir angeblich nur 10 Prozent unseres Gehirns nutzen, ist ein unausrottbarer ­Mythos.

780 000 km beträgt die Gesamtlänge aller Nervenfasern des Menschen. Dies entspricht der Distanz Erde–Mond–Erde.

160 000 km beträgt die Gesamt­länge aller Blutgefässe im Gehirn. Sie bringen den Sauerstoff punktgenau dorthin, wo er ­gebraucht wird.

86 Mia Nervenzellen (Neuronen) besitzt das menschliche Gehirn. Und nochmals ­mindestens so viele Supportzellen (Glia).

23 Watt Mit bis zu dieser Leistung arbeitet das ­Gehirn. Zum Vergleich: Der Supercomputer Piz Daint hat eine Spitzenleistung von 2 000 000 Watt.

100 Billionen Synapsen (Verbindungen) gibt es mindestens im menschlichen Gehirn. Genau gezählt hat sie noch niemand.

2500 cm2 Die ausgebreitete Fläche der menschlichen Grosshirnrinde entspricht etwa jener eines Gästehandtuchs.

1 Trillion Man schätzt, dass das Gehirn 1 000 000 000 000 000 000 Rechenschritte pro Sekunde ausüben kann (1 Exaflop). Der schnellste Computer ist immer noch rund 30 mal langsamer.

20 Prozent unseres gesamten Energie- und Sauerstoffverbrauchs gehen zulasten des Gehirns, obwohl dieses nur 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht.

9,5 Kilo wiegt das Gehirn eines Pottwals, das grösste Denkorgan im Tierreich. Zum Vergleich: das menschliche Gehirn bringt etwa 1,3 Kilo auf die Waage.

 

Lesen ist mit das beste Hirndoping – wir empfehlen diese drei neuen Bücher rund ums Thema Gehirn

20 Mythen, unterhaltsam zerpflückt

«Das Gehirn rechnet wie ein perfekter Computer» oder: «Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns». Das sind nur zwei von vielen Mythen, die sich um unser Gehirn ranken. In dem Buch «Hirnrissig» zerpflückt der Neurobiologe und Science-Slammer Henning Beck äusserst unterhaltsam 20 dieser Mythen. «Schnallt Euch an, ihr Neuromythen, die Hirnforschung schlägt zurück!» Hanser, 27.90 Fr.

Auf dem Weg zum superklugen Menschen

Werden wir durch Neuro-Enhancement klüger, wacher, ­effizienter? Dieser Frage geht die ­Wissenschaftsjourna­listin Wiebke Rögener in ihrem anregenden Buch «Hyper Hirn» nach. Sie nimmt darin «hirndopende» Medikamente und illegale ­Drogen unter die Lupe und zeigt den Stand der Forschung zu implantierten Chips und genetisch optimierten, superklugen Menschen auf. Reinhardt, 29.90 Fr.

So bringt man das Hirn auf Touren

Wie konstruiert unser Gehirn unsere Realität? Was ­passiert im Gehirn, wenn Sie diese Zeilen lesen? Solche Fragen behandelt die Gedächtnisweltmeisterin Christiane ­Stenger in ihrem Buch «Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeauf­sichtigt». Sie gibt Tipps, wie sie den Alltag effizienter ­gestaltet, ­konzentrierter arbeitet und dabei erst noch entspannter ist. Campus, 27.90 Fr

Der bestvermessene See der Welt

Löcher vor Kreuzlingen, eine unterseeische Quelle und Methanvorkommen: Bei der Erkundung des Bodensees stiess das Team des Projekts Tiefenschärfe auf jede Menge Überraschungen

Bodensee Illu

Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, gehört zu den spektakulärsten Landschaften in der Schweiz. Die weissen, bis zu 400 Meter hohen Kalksteinfelsen, durch die sich der Vorderrhein schlängelt, sind als «Grand Can­yon der Schweiz» weltberühmt.

Dass der Rhein nur 100 Kilometer flussabwärts einen ähnlich imposanten Canyon geformt hat, weiss hingegen kaum jemand. Bei Altenrhein, dort, wo der Rhein bis vor gut hundert Jahren in den Bodensee floss, stürzte er sich einst, für das menschliche Auge weitgehend verborgen, in eine 70 Meter tiefe, steilwandige Schlucht unter Wasser. Auf dem Seeboden mäan­drierte der Rhein zeitweise weiter, in einem 20 bis 30 Meter tiefen Flussbett, bis weit in den See hinaus. Erst auf der Höhe von Romanshorn verlieren sich die Flussspuren am Grund.

Die Schlucht und das einstige Flussbett sind noch heute am Seeboden gut zu erkennen. Dies ist vielleicht eine der verblüffendsten, aber bei weitem nicht die einzige aussergewöhnliche neue Erkenntnis, die das Projekt «Tiefenschärfe – Hochauflösende Vermessung Bodensee» zutage gefördert hat. Im Rahmen des länderübergreifenden, noch bis 2015 laufenden Projekts wird der Bodensee – nach Platten- und Genfersee der drittgrösste See Mitteleuropas – komplett neu kartiert und dreidimensional modelliert. Finanziert wird das Projekt von der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) und vom EU-Regio­nalprogramm Interreg IV.

Verblüffendes Zusammenspiel von See- und Grundwasser

«Kein See in dieser Grössenordnung ist je so präzise vermessen worden», sagt Projektkoordina­tor Martin Wessels vom Institut für Seenforschung in Langenargen (D). Das hat damit zu tun, dass am «Schwäbischen Meer» gleich zwei neue hochpräzise Technologien zum Einsatz kamen: zum einen die neuste Generation eines Fächer­echolots, bei dem vom Forschungsschiff Kormoran aus gleichzeitig 400 Sonarstrahlen den Seegrund abtasteten; zum anderen das Airborne Hydromapping, eine brandneue Weiterentwicklung der laserbasierten Fernerkundungstechnologie Lidar, mit der auch Strukturen unter Wasser bis zu einer Tiefe von etwa acht Metern kartiert werden können (s. Grafik).

Laserscanning

«Mit der Kombination der beiden Technologien kann man das Objekt Seeboden aus einem Guss erfassen», sagt Wessels. Derzeit sind die Forscher damit beschäftigt, die beiden Datensätze miteinander zu verschmelzen. Mitte 2015 sollen die hochauflösenden Geländemodelle und Seekarten fertig und laut Wessels vielseitig nutzbar sein. Sie sollen zu einem verbesserten Schutz der Pfahlbausiedlungen in Flachwasser­zonen beitragen, sie sollen auch helfen, mögliche Gefahren durch instabile Hänge und daraus resultierende Hangrutschungen zu erkennen oder das Zusammenspiel von See- und Grundwasser besser zu verstehen.

Gerade dieses Zusammenspiel war eine der grossen Überra­schun­­­gen der bisherigen Auswertungen. Wie die Tiefenbilder erahnen lassen, tritt im Überlingersee Grundwasser aus. Jedenfalls fehlen an mehreren Stellen grosse Stücke der Sedimentbedeckung der felsigen Molasse. Jetzt müssen die Forscher vor Ort noch beweisen, dass da tatsächlich «Wasser rausgeht», wie es Wessels formuliert. Erhärten sich die Vermutungen, dann wankt ein Dogma: «Bislang ging man davon aus, dass Seewasser und Grundwasser weitgehend voneinander getrennt sind», sagt Wessels.

Sowieso: Überraschungen erlebte das Tiefenschärfe-Team bei der Analyse der Daten zuhauf: eine unterseeische Quelle etwa, wo Wasser aus dem Seegrund austritt und einen kleinen Fluss bildet; kreisrunde 6 bis 7 Meter ­tiefe Löcher vor Kreuzlingen, über deren Entstehung die Forscher derzeit nur rätseln können; oder Spuren gigantischer Hang­rutschun­gen vor der Mündung der Goldach. «Es ist wirklich ein Entdecken», sagt der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern. «Das gibt es heute in der Wissenschaft nicht mehr oft.»

Schiffswracks und abgestürzte Flugzeuge als «Beigemüse»

Anselmetti war wesentlich an dem Projekt Tiefenschärfe beteiligt. Er führte mit seinem Team die Fächerecholot-Messungen durch. Seine Arbeitsgruppe ist die einzige in der Schweiz, die ein solches Gerät besitzt – es kostet mehrere Hunderttausend Franken. Rund drei Monate lang fuhren die Forscher über den See, immer schön parallel zum Hang und peinlich darauf achtend, dass die Bahnen zur Hälfte überlappen, damit jeder Bereich doppelt abgedeckt ist. Mehr als 5000 Kilometer legten die Forscher dabei zurück. «Das ist ein sehr, sehr langweiliger Job.» Dafür entschädigen die unzähligen Entdeckungen.

Dazu zählen auch nicht geologische Funde wie etwa Wracks versenkter Schiffe oder abgestürzter Flugzeuge. An diesem «üblichen Beigemüse» seien die Forscher zwar nicht primär interessiert, sagt Anselmetti, aber befassen müssen sie sich damit trotzdem. Um einen Ansturm von Tauchern und Hobbyarchäologen zu verhindern, hat die Projektleitung daher entschieden, grössere Wracks gar nicht in die Karte aufzunehmen. Dasselbe gilt für Trinkwasserfassungen und weitere sensible Installationen – ein Giftanschlag auf die Trinkwasserversorgung am Überlingersee vor neun Jahren hat diesbezüglich die Bevölkerung aufgeschreckt.

Der Wissenschaft öffnen die neuen 3-D-Bodenseekarten ganz neue Welten. So gibt es Beweise für Methanvorkommen im Seegrund oder Hinweise auf mögliche geologische Bruchzonen. «Da sind wir sehr scharf drauf», sagt Anselmetti. Wessels seinerseits möchte ein besonderes Auge auf die Entwicklung der (neuen) Rheinmündung werfen. Wie viel Wasser fliesst einfach oben rein, wie viel stürzt in die Tiefe? Wie verändert sich die Durchmi­schung mit der Klimaerwärmung? Und wie entwickelt sich das Flussbett unter Wasser weiter?

Möglicherweise entsteht da ja gerade der nächste Rhein-Can­yon, den noch niemand kennt.

 

«Zürichsee ist vor Tsunamis nicht gefeit»

In Schweizer Seen finden sich Spuren vergangener Erdbeben

Vor 13 800 Jahren erlebte Zürich eine Naturkatastrophe gewaltigen Ausmasses. Der Zürichsee war damals viel grösser als heute. Die Lindenhof-Endmoräne staute den See, sein Spiegel lag 12 Meter über den heutigen 406 m ü. M. Er sei wohl mit dem Walensee und über das Seez- und das Rheintal möglicherweise sogar mit dem Bodensee verbunden gewesen, erzählt Flavio Anselmetti von der Universität Bern.

Dann bebte die Erde. Massive Hangrutschungen im See und ein Binnensee-Tsunami waren die Folge. Die Riesenwelle schwappte über die Endmoräne, diese durchbrach – entweder wegen des Erdbebens oder des Tsunamis – an vier Stellen, und eine gigantische Wassermasse flutete das Limmattal.

Eine Gefahrenkarte für alle Schweizer Seen

«Massive Rutschungen, die Tsu­namis auslösen, passieren in der Schweiz etwa alle 1000 Jahre», sagt Anselmetti. Der Paläo­seis­mologe ist spezialisiert auf prähistorische Erdbeben. 1601 zum Beispiel löste ein Erdbeben in der Innerschweiz Hang­rutschungen im Vierwaldstättersee und damit eine rund vier Meter hohe Tsunamiwelle aus.

Die Spuren für die historischen und prähistorischen Erdbeben findet Anselmetti am Grund der Schweizer Seen. Seit gut zwei Jahren besitzt seine Arbeitsgruppe ein hoch modernes Fächerecholot (s. Haupttext / Grafik oben), mit dem er seither im Auftrag von Swisstopo und anderen Organisationen schon verschiedene Schweizer Seen neu vermessen hat, darunter den Genfer-, den Vierwaldstätter- und den ­Zürichsee. Anders als beim Bodensee wurde bei diesen Seen die seichte Uferzone nicht ­zusätzlich mit ­Lidar-Vermessungen ergänzt.

Anselmettis Ziel ist es, Unter­wassergefahrenkarten von allen Schweizer Seen zu erstellen. «Wir können gefährdete Hänge identifizieren», sagt Anselmetti. Allerdings sei es sehr schwierig bis unmöglich vorauszusagen, wann ­genau sich ein Tsunami ereignen könnte. «Auch der Zürichsee ­ ist nicht gefeit vor solchen Ereignissen.»

 

Zahlen und Fakten

536 km2 gross ist der Bodensee

0,1 Grad Kelvin. Diese minimen ­Temperaturunterschiede konnte eine Wärmebildkamera an Bord des Flugzeugs in der Uferzone registrieren

1893 wurde der Bodensee zum ersten Mal vermessen, durch Ferdinand Graf von Zeppelin

5550 km hat das Forschungsschiff ­Kormoran beim Sammeln der ­Fächerecholotdaten zurückgelegt

254 Meter tief ist der Bodensee an seiner tiefsten Stelle (zwischen Uttwil und Fischbach)

612 000 Euro kostet das Projekt. Die Schweiz beteiligt sich mit 159 120 Euro

400 Sonarstrahlen tasten beim ­Fächerecholot den Untergrund gleichzeitig ab

280 km Uferzone vermassen die ­Forscher mit der Hydromapping-­Technologie aus dem Flugzeug in nur vier Tagen

1000-fach höhere Auflösung mit den neuen Technologien als bei der zweiten Vermessung 1986–1990

 

erschienen in der SonntagsZeitung vom 8. Juni 2014

Tausende Meniskusoperationen sind unnötig

Hochkarätige Studien bezweifeln den Nutzen der Arthroskopie bei Meniskusschäden. Trotzdem boomt der Eingriff

Arthroskopische Knieoperation

Arthroskopische Knieoperation

Nik Walter

18 364-mal. So oft entfernten Orthopäden im Jahr 2012 in Schweizer Spitälern einen angerissenen Meniskus mit einem minimal invasiven Eingriff, einer Arthroskopie. Damit belegt die «Meniskektomie am Knie, arthroskopisch, partiell» Platz zwei auf der Liste der (chirurgischen) Eingriffe an hiesigen Spitälern, weit vor Blinddarmoperationen zum Beispiel oder Gallenblasenentfernungen. Nur Kaiserschnitte werden hierzulande noch öfter durchgeführt.

Bei solch hohen Zahlen an Eingriffen müsste man eigentlich davon ausgehen, dass der Nutzen des Eingriffs klar belegt ist. Weit gefehlt. Es mehren sich im Gegenteil die Hinweise, dass eine arthroskopische Meniskusopera­tion gegenüber anderen Behandlungsoptionen wie etwa Physiotherapie keinen Vorteil bringt.

Bei einer Arthroskopie («Gelenkspiegelung») führen Orthopäden Instrumente und Kamera über zwei kleine Schnitte in das Knie ein. Typischerweise wird bei einer Meniskusoperation das Knie gespült, der Knorpel poliert und lose Knorpelteile entfernt. Der Eingriff gilt als sehr sicher, ist kaum mit Risiken verbunden, und die Patienten können in der Regel noch am selben Tag nach Hause.

Arthroskopischer Eingriff: Reparatur eines gerissenen Meniskus

Arthroskopischer Eingriff: Reparatur eines gerissenen Meniskus

Obwohl der Nutzen zweifelhaft ist, wird fleissig operiert

Kein Wunder, boomt die Meniskektomie dermassen. In den USA wird der Eingriff 700 000-mal pro Jahr durchgeführt, in Grossbritannien rund 80 000-mal. Auch in der Schweiz steigt die Zahl der Eingriffe immer noch Jahr für Jahr. 2011 operierten Orthopäden 16 511-mal einen beschädigten Meniskus, 2003 tätigten sie erst 10 549 Eingriffe. In zehn Jahren hat sich die Zahl der Meniskus­operationen also knapp verdoppelt. «Diese Zahlen sind erschreckend», sagt der Arthrosespezialist Lukas Wildi von der Klinik für Rheumatologie am Unispital Zürich. «Ich kann nicht nachvollziehen, warum das trotz gutem Spontanheilungspotenzial immer noch so viel gemacht wird.»

Dass viel zu viele Menisken operiert werden, weiss man im Grunde schon länger. In den letzten zehn Jahren zweifelten diverse Studien an der Wirksamkeit der therapeutischen Arthroskopie bei degenerativen Meniskusschäden. Ohne Folgen für die Praxis, es wurde fleissig weiteroperiert.

Letztes Jahr dann schreckten gleich zwei viel beachtete Studien die Orthopädenzunft auf – beide wurden im renommierten Ärzteblatt «New England Journal of Medicine» veröffentlicht. In der einen Untersuchung verglichen Ärzte des Brigham and Women’s Hospital in Boston die Meniskektomie mit Physiotherapie bei 351 Patienten mit Meniskusriss und leichter Arthrose. Sowohl bei der Funktionsfähigkeit des Knies wie auch bei den Schmerzen fanden die Forscher nach einem Jahr keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen.

In der zweiten Studie behandelten finnische Ärzte Meniskus­patienten entweder mit einer therapeutischen oder einer Schein­arthroskopie. Bei Letzterer wurden die Instrumente zwar ins Knie eingeführt, aber nichts gemacht. Wieder lautete das Resultat: kein Unterschied zwischen Behandlung und Scheinbehandlung. Und erst diese Woche bilanziert das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) in einem neuen Bericht: «Arthros­kopie des Kniegelenks bei Arthrose: kein Nutzen erkennbar.»

Trotzdem: Es wird weiteroperiert, was das Zeug hält. Einerseits verleite der wirtschaftliche Druck Kliniken zu mehr Eingriffen als nötig, sagt Wildi. «Freie Opera­tionskapazitäten lassen sich gut mit kurzfristig eingeplanten Arthroskopien füllen.» Der Nachweis einer Wirksamkeit müsse gegenüber dem Kostenträger leider nicht erbracht werden. Das sieht Sandro Fucentese, Teamleiter Kniechirurgie an der Uniklinik Balgrist in Zürich, ähnlich: «Man macht zu viel Arthroskopie, weil wir ein zu grosses Angebot an orthopädischen Kliniken haben.»

Andererseits sind die Patienten laut mehreren Experten ­heute auch sehr ungeduldig. «Sie wollen Ski fahren, Tennis spielen, aber auf keinen Fall warten», sagt Stefan Eggli von der Klinik Ortho­pädie Sonnenhof in Bern.

Auch für Eggli wird zu schnell arthroskopiert. «18 000 Eingriffe sind gefühlsmässig wahnsinnig viel. Es nähme mich wunder, wie viele übrig blieben, würde man die Patienten konservativ behandeln.» Eggli selber tut genau dies. Physiotherapie, mildes Krafttraining, Velofahren – dies ist erst mal das Programm für all seine Patienten mit degenerativen Meniskusrissen. «Nach drei Monaten hat weit mehr als die Hälfte keine Beschwerden mehr.»

Bis 30 Millionen Franken vermeidbare Kosten jährlich

Etwa jeder dritte Patient habe aber Einklemmungssymptome, sagt Eggli, es knacke im Knie, das Gelenk blockiere. «Das ist sehr unangenehm.» Bei diesen Patienten sei eine Arthroskopie angesagt. «Am Tag nach der Opera­tion ist alles wieder gut», sagt ­Eggli, «der Schmerz ist weg.»

Wie viele der 18 000 Patienten unnötig operiert werden, ist schwierig zu eruieren. Kein Orthopäde würde zugeben, eine unnötige Operation durchgeführt zu haben. Trotzdem dürfte ­aufgrund von Egglis Erfahrungen und Einschätzungen anderer Experten mindestens jeder zweite Eingriff überflüssig sein. Das bedeutet: Etwa 10 000 Kniearthroskopien sind möglicherweise unnütz; einzige Profiteure sind die Orthopäden und die Kliniken.

Rund 3000 Franken koste eine arthroskopische Meniskektomie, sagt Eggli, «all inclusive». Hochgerechnet heisst dies: Jahr für Jahr verursachen nicht indizierte Knieoperationen Kosten von rund 30 Millionen Franken.

Wie man diese Kosten senken und die grassierende Operationslust der Orthopäden eindämmen könnte, dafür gibts kein Patentrezept. Eggli hat aber eine Empfehlung: Man müsste jeden Patienten mit degenerativem Meniskusriss zwingend zuerst drei Monate konservativ behandeln. «Oft hilft einfach nur abwarten.»

Anatomie des Knies (Kniescheibe fehlt)

Anatomie des Knies (Kniescheibe fehlt)

Das hilft bei Kniearthrose

Eine Kniearthrose wird durch den Verschleiss der Knorpelflächen im Knie verursacht. Sie hat einen wellenförmigen Verlauf mit schmerzhaften und weniger schmerzhaften Phasen. Diese Massnahmen können nachweislich helfen, die Schmerzen zu lindern:

Bewegung Leichtes Krafttraining, Velofahren, Physiotherapie.

Medikamente Nicht steroidale Entzündungshemmer (Diclofenac, Ibuprofen etc.), auch als Salben.

Injektionen Kortison lindert die Entzündung temporär, Hyaluronsäure «schmiert» das Gelenk.

Glukosamin-/Chondroitinsulfat Wirkung umstritten, könnte dem Knorpelabbau entgegenwirken.

 

Der Text wurde in der SonntagsZeitung vom 18.5.2014 publiziert

Mehr Action fürs Hirn!

Kommerzielle Trainings für das Köpfchen machen kaum schlauer, Shooter-Games hingegen vielleicht schon

Unablässig drehen die Buchstaben N D E R U F auf meinem Bildschirm im Kreis. Ich muss möglichst schnell herausfinden, welches Wort dahintersteckt. «Fudern»?, nein, gibt es nicht. Aha, «Freund» ist gesucht, ich kriege ein grünes Häkchen. Schon tauchen die nächsten Buchstaben auf, dieses Mal sieben: B E G W E Ö L. Ping, die Zeit ist abgelaufen, «Gewölbe» ist mir leider zu spät in den Sinn gekommen.

Beim nächsten Spiel muss ich schnell rechnen, etwa Gleichungen lösen wie «28 ? 4 = 7» oder «? – 9 = 13». Da bin ich richtig gut. Nun kommt ein Gedächtnistest: Ich muss mir in einer Reihe auf dem Monitor vorbeiziehender Symbole jeweils das vorletzte Symbol merken und entscheiden, ob es mit dem aktuellen identisch ist oder nicht. Das ist sauschwer, es braucht schon eine clevere Strategie, um bei einem solchen «N-Back-2»-Test einigermassen zu bestehen.

Willkommen in der Welt der Gehirntrainings! Weltweit nutzen Hunderte von Millionen Menschen solche oder ähnliche Denk­übungen – in der Hoffnung, bei Prüfungen besser abzuschneiden, sich Geburtstage leichter merken zu können oder gar ihren IQ zu steigern.

Kein Wunder, buhlen unzäh­li­ge Websites, Apps und Program­me um die Gunst all jener, die sich mehr Hirnleistung wünschen. «Lassen Sie Ihr Gehirn wachsen», heisst es bei Neuronation, «Erhöhen Sie Ihre Gehirnleistung» bei Memorado, «Fordern Sie Ihr Gehirn heraus» beim Marktführer Lumosity mit über 50 Millionen Nutzern. Mit einem gezielten Gehirntraining, suggerieren solche Slogans, könne man die kogni­tiven Leistungen verbessern, das Gedächtnis aufmotzen und sogar gescheiter werden (siehe auch Box unten).

Funktioniert hat der Effekt nur bei hochgradig Motivierten

Und tatsächlich: Die Trainingsprogramme können helfen, bestimmte Hirnleistungen zu fördern. Wer zum Beispiel fleissig übt, Wörter zu bilden, kann seine sprachliche Kompetenz verbessern. Wer immer wieder geometrische Formen mental rotiert, fördert sein visuell-räumliches Gedächtnis, und wer viel blitzrechnet, steigert seine mathematischen Fähigkeiten. Mit anderen Worten: Dort, wo man viel trainiert, wird man auch besser. Das ist wissenschaftlich unbestritten.

Unklar ist hingegen, ob das Training weiter reichende Folgen haben kann. Etwa, ob jemand, der fleissig rechnet, auch besser im Planen wird oder ob ein inten­sives Gedächtnistraining auch die ­sogenannte fluide Intelligenz ­steigern kann, also die Fähigkeit, neue Probleme zu lösen, ohne ­dabei auf vorgängig Gelerntes ­zurückzugreifen. Hirnforscher reden von einem «Transfereffekt».

Vieles spricht dagegen, dass gängige Gehirnjogging-Übungen Transfereffekte bewirken. «Lernen ist sehr, sehr spezifisch. Es ist äusserst schwierig, etwas Gelerntes auf neue Situationen, auf neue Zusammenhänge zu übertragen», sagt die kognitive Neurowissenschaftlerin Daphne Bavelier von der Universität Genf. «Wir nennen das den ‹Fluch des spezifischen Lernens›.»

Transfereffekte sind daher so etwas wie der Heilige Gral der Neuropsychologie. Schon seit vielen Jahren suchen Forscher weltweit nach Trainingsmethoden, bei denen sich ein solcher Effekt einstellt. Bislang meist ohne Erfolg. «80 bis 90 Prozent der gemachten Untersuchungen belegen, dass Transfereffekte von einer kognitiven Leistung auf eine andere ­relativ schwach sind», sagt der Neuro­psychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich.

Für viel Aufsehen sorgte 2010 die «BBC-Studie». 11 430 Erwachsene nahmen damals an der grössten Untersuchung zu computer-­basiertem Gehirntraining teil. Das Fazit: Die Probanden verbesserten sich zwar bei den Games, die sie spielten, einen Transfer­effekt fanden die Forscher aber nicht. «Gehirntraining macht uns nicht gescheiter», schrieben sie im Wissenschaftsmagazin «Nature». Zwei norwegische Forscher, die in einer Übersichtsarbeit 2013 alle relevanten Studien zum Thema Transfereffekt begutachteten, fanden ebenfalls keine überzeugenden Hinweise darauf.

Dass über den Transfereffekt überhaupt noch diskutiert wird, geht zu einem grossen Teil auf das Konto der Arbeitsgruppe um den Psychologen Walter Perrig von der Universität Bern und seiner Doktorandin Susanne Jäggi. In einer viel beachteten Arbeit berichteten sie 2008, dass ein Training des Arbeitsgedächtnisses mit ­einer anspruchsvollen N-Back-­Aufgabe tatsächlich zu einer Verbesserung der fluiden Intelligenz führe, und zwar «dosisabhängig»: Je mehr Training, desto grösser die Verbesserung. Im Herbst 2013 konnte Jäggi, mittlerweile Assistenzprofessorin an der University of California in Irvine, in einer weiteren Studie zeigen, dass auch die Einstellung eine wichtige Rolle spielt: Wer an einen Erfolg des Gehirntrainings glaubt, profitiert auch davon.

Ist also ein Placebo-Effekt dafür verantwortlich, dass Jäggi und Perrig einen Transfereffekt finden und die meisten anderen Forscher nicht? Jein, denn in einem weiteren Punkt unterscheiden sich die Berner Studien von jenen der Konkurrenz. Jäggi und Co. wählten nur Probanden aus, die hochgradig motiviert waren und die auch wussten, worum es ging. «Ich weiss nicht, ob das der entscheidende Grund war», sagt Perrig, «aber es ist eine Hypothese.»

Das könnte stimmen, meint Jäncke. Für den Neuropsycho­logen liegt der Schlüssel zum Erfolg von Jäggis Training aber vor allem darin, dass nicht nur eine ­Fähigkeit trainiert wird, sondern gleichzeitig verschiedene Hirn­funktionen gefordert werden. So trainiert die N-Back-Aufgabe sowohl das visuelle als auch das auditorische Arbeitsgedächtnis. Zudem muss man sich bei so einer komplexen Aufgabe motivieren und konzentrieren. Die Frage sei dann allerdings, so Jäncke, ob man überhaupt von einem Transfer­effekt sprechen könne, wenn eh schon gleichzeitig viele verschiedene Funktionen trainiert würden.

«Die Anbieter produzieren nur Nebelbomben»

Für Jänckes «Multimodalitäts»-­Hypothese spricht auch ein Experiment kalifornischer Forscher. Senioren mussten auf dem Bildschirm ein Auto über eine kur­vige, steile Strecke steuern und gleichzeitig auf Schilder achten, die neben oder über der Strasse auftauchten. Ihre Aufmerksamkeit war gefordert, sie mussten schnell Aufgaben wechseln und Informationen im Arbeitsgedächtnis speichern. Und tatsächlich: Die Senioren verbesserten sich nach nur vier Wochen Training in einer ganzen Reihe von kognitiven Fähigkeiten, auch solchen, die nicht direkt trainiert wurden, wie die Forscher letzten Herbst in «Nature» berichteten.

Multimodalität spielt bei den kommerziellen Gehirntrainings keine grosse Rolle. Zwar stützen sich verschiedene Anbieter, darunter Lumosity und Neurona­tion, auf die Arbeiten von Jäggi und Co. Nur: Derart komplex wie die Aufgaben im Labor ist keines der kommerziellen Lernprogramme, und die Motivation der Anwender ist auch schwer zu beeinflussen. Zudem hat kein Anbieter wissenschaftlich sauber getestet, ob die Trainingsprogramme halten, was sie versprechen. Die Firmen würden zwar mit wissenschaftlichen Untersuchungen prahlen, sagt Jäncke. «Die Ergebnisse zeigen sie aber nicht. Die produzieren nur Nebelbomben.»

Derweil hat die Brain-Games-­Industrie nicht nur Gesunde im Visier, sondern zunehmend auch Menschen mit kognitiven Defiziten. Die Programme und Apps sollen bei Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen helfen, bei Leseschwäche, bei Depressionen und als Prävention vor Alzheimer oder Burn-outs dienen, heisst es auf den Websites. Nur: Wissenschaftlich abgestützt sind auch diese Behauptungen nicht.

Trotz der dürftigen Datenlage boomt Gehirnjogging. «Das ist eine Multimilliarden-Dollar-Industrie», sagt Jäncke. Der Traum von einem intelligenteren Leben lassen sich die Nutzer einiges ­kosten. Bei Lumosity beläuft sich das Training monatlich auf 15 Franken, im Jahr 80 Franken, bei Neuronation bewegen sich die Abopreise im ähnlichen Rahmen.

Action-Game-Spieler ­verbessern ihre Sehfähigkeit

Das Geld könnte man auch anders einsetzen. Für Klavierlektionen etwa oder einen Sprachkurs. «Ich plädiere dafür, etwas Sinnvolles zu lernen», sagt Jäncke, «da haben Sie auch einen Gewinn davon.»

Doch auch für alle jene, die ­lieber am Computer ihr Gehirn fordern, aber keine langweiligen Gedächtnistrainings absolvieren wollen, gibt es ein Rezept: Ac­tion-Games spielen! «Medal of Honor» zum Beispiel, «Call of Duty» oder «Unreal Tournament». Denn ausgerechnet Shooter-Games scheinen das zu können, was all die Gehirnjogging-­Programme nur versprechen: Sie verbessern die Aufmerksamkeit, das Arbeitsgedächtnis, sie ­fördern das Multitasking und das räumliche Vorstellungs­ver­mögen. Das heisst: Action-­Games scheinen tatsächlich einen Transfereffekt zu ­zeigen.

Call of Duty

Call of Duty

Diese erstaunlichen Erkenntnisse brachten Experimente der Arbeitsgruppe von Daphne Bavelier an der Universität Genf ­hervor. Sie liess unerfahrene ­Spieler in ihrem Labor entweder Action-Games trainieren oder Strategiespiele wie «The Sims» oder «Tetris». Nur die Action-­Games-Spieler verbesserten dabei ihre kognitiven Fähigkeiten.

Die wohl überraschendste Erkenntnis: Action-Games-Spieler verbessern auch ihre Sehfähigkeiten, und zwar markant. «Der Spruch ‹Zu viel Bildschirmzeit schadet den Augen!›, stimmt so nicht», sagt Bavelier. Der Befund mache sogar Sinn. ­«Action-Games bieten viel visuelle Stimulation.»

Wer weiss: Vielleicht sind die oft verpönten Action-Games ja gar der lang gesuchte Heilige Gral der Neuropsychologie.

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 27. 4. 2014

 

Was kommerzielle Gehirntrainings können und was nicht – und wer davon profitiert

Die meisten Gehirnjogging-Programme zielen darauf ab, das Arbeitsgedächtnis (AG) zu verbessern. Denn bis zu 90 Prozent der messbaren Intelligenz (IQ), aber auch die Motivation und die Aufmerksamkeit korrelieren mit dem AG. Die Idee dabei, die kommerzielle Gehirntrainings-­Anbieter gerne kolportieren: Wenn man das AG trainiert, dann müsste das auch auf andere Gehirnfunktionen Auswirkungen haben, weil das AG für so viele Dinge wichtig ist. Das Problem: Solche Transfereffekte konnten in der Praxis bisher nur in Ausnahmefällen nachgewiesen werden.

Obwohl ein Gehirntraining also kaum schlauer macht, haben Anbieter wie Lumosity, Cogmed, Neuronation, Cognifit, ­Jungle Memory, ­Happy Neuron, Braintwister (Uni Bern) etc. starken Zulauf. Wohl auch, weil ­viele Firmen damit werben, ihre Produkte basierten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aber nur die wenigsten testen ihre Programme tatsächlich auf deren Effektivität. Zu den Ausnah­men zählen der Marktführer Lumosity und Cogmed, die viel in die Forschung investieren. Einen Transfer­effekt konnten aber auch sie für ihre Produkte bislang nicht nachweisen.

Wer profitiert von einem Gehirntraining? Am ehesten Menschen, die bislang kaum Gedächtnistraining gemacht haben, sagt der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Uni Zürich. Das Beste an den Programmen sei, dass man damit das Lernen lerne, auch das Planen und Motivieren. «Für mich wären solche ­Programme aber sinnlos.»

Vergiss es, Franz (Humer)

Roche investiert viel in die Forschung gegen den Hirnzerfall bei Alzheimer – doch anders als angekündigt, ist in den nächsten 10 Jahren wohl kein Durchbruch absehbar

Von Nik Walter

«In zehn Jahren», sagte Franz Humer, der zurückgetretene Verwaltungsratspräsident von Roche am letzten Sonntag in dieser Zeitung, «wird man Alzheimer, wie heute einige Krebsarten, als chronische Erkrankung behandeln können.» Diese optimistische Aussage kontrastiert scharf mit der Ernüchterung, die sich in den letzten Jahren im Feld der Alzheimer-Forschung breitgemacht hat. Zu viele hoffnungsvolle therapeutische Ansätze sind in grossen klinischen Studien einer nach dem anderen grandios gescheitert.

Da stellt sich die Frage: Ist Humers Optimismus berechtigt, oder spielt da auch eine gute Portion Wunschdenken mit? Roche setzt nämlich mittel- bis langfristig auf die Neurowissenschaften. Der Basler Pharmamulti will so seine grosse Abhängigkeit vom Krebsgeschäft mindern und sein Portfolio diversifizieren.

Wer als Erster ein Alzheimer-Medikament auf den Markt bringt, das den Verlauf der Demenzerkrankung stark bremsen oder gar stoppen kann, dem winkt ein globaler Markt von geschätzten 10 Milliarden Franken pro Jahr. Diesen Jackpot hat bislang noch niemand geknackt. Weltweit laufen derzeit aber über 500 klinische Versuche, im Rahmen derer neue (oder altbekannte) Substanzen gegen den Hirnzerfall an Patienten und Gesunden erprobt werden. Das beliebteste Ziel der getesteten Wirkstoffe: Ablagerungen von Amyloid-Beta-Eiweissen (Aß), sogenannte Plaques, die als eine Art Markenzeichen der Alzheimer-Demenz gelten. Gemäss gängiger Lehrmeinung zerstören Aß-Eiweisse die Gehirnzellen und gelten daher als Hauptschuldige für die Alzheimer-Demenz.

Der letzte Rückschlag kam im Sommer 2012

Vor 15 Jahren nahm die irische Firma Elan die Aß-Eiweisse erstmals ins Visier. An 372 Patienten, die an einer milden bis moderaten Form der Demenz litten, testeten sie Anfang der 2000er-Jahre einen Impfstoff gegen das verklumpende Eiweiss. Das Prinzip funktionierte zwar – die Impfung reduzierte die Zahl der Plaques deutlich. Doch sechs Prozent der Patienten erlitten eine Gehirnentzündung. Der multinationale Versuch, bei dem auch Patienten in Zürich behandelt wurden, musste 2002 abgebrochen werden.

Quelle: www.alzheimer-forschung.de

Quelle: www.alzheimer-forschung.de

Von diesem ersten Rückschlag liessen sich die Pharma- und Biotechfirmen aber nicht entmutigen. Sie entwickelten (und entwickeln) weiter diverse Wirkstoffe, die alle das Ziel haben, die Aß-Eiweisse zu bekämpfen. Mehrere dieser Substanzen wurden oder werden auch an Patienten getestet, manche davon sogar im Rahmen grosser Zulassungsstudien.

Doch bislang scheiterten alle neuen Arzneien in der klinischen Prüfung – entweder weil sie nicht besser als ein Placebo wirkten oder weil die Studien wegen zu heftiger Nebenwirkungen abgebrochen werden mussten. Der letzte Rückschlag kam im Sommer 2012, als bekannt wurde, dass die Wirkstoffe Bapineuzumab (Janssen, Pfizer) und Solanezumab (Eli Lilly) in mehreren grossen Studien wirkungslos blieben. Bapineuzumab und Solanezumab sind Antikörper, die das Aß-Eiweiss aus dem Verkehr ziehen.

Einen ähnlichen Antikörper, Gantenerumab, testet Roche derzeit in einer multinationalen klinischen Studie. Der Unterschied zu den gescheiterten Versuchen: Roche berücksichtigt nur Patienten in einem sehr frühen Alzheimer-Stadium. Je früher man die Krankheit bekämpft, so die Idee, desto besser sind die Behandlungschancen. «Wir sind optimistisch», sagt Hansruedi Lötscher, Verantwortlicher für Molecular Neuroscience bei Roche und Mitentwickler von Gantenerumab.

Weniger zuversichtlich klingt es in der «Financial Times». Gantenerumab könnte das gleiche Schicksal ereilen wie Bapineuzumab, schreibt das britische Blatt und beruft sich dabei auf Aussagen von Pharmaexperten.

Die Idee, man müsse Alzheimer respektive die Aß-Eiweisse möglichst früh bekämpfen, um das Fortschreiten der Demenzerkrankung zu stoppen, ist unter Experten weitverbreitet. Daher sind die Hoffnungen in klinische Versuche wie jenen von Roche gross. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt die Zürcher Biotech-Firma Neurimmune zusammen mit der Firma Biogen Idec. «Die Resultate mit dem Antikörper BIIB037 sind bislang erfreulich», sagt Roger Nitsch, Präsident von Neurimmune und Direktor der Abteilung Psychiatrische Forschung an der Universität Zürich.

US-Forscher präsentieren einen experimentellen Bluttest

Noch früher eingreifen, nämlich präventiv, wollen zwei Forschungsnetzwerke bei Patienten, die an einer seltenen vererbten Form von Alzheimer leiden und schon ab 40 Jahren dement werden. Bei beiden klinischen Versuchen kommt jeweils ein Wirkstoff von Roche zum Einsatz: Gantenerumab respektive Crenezumab. Resultate dieser Tests werden nicht vor 2020 erwartet.

Es ist aber nicht gesagt, dass die Ergebnisse, die für vererbte Alzheimer-Formen gelten, auch für die viel häufigeren sporadischen Formen Gültigkeit haben. Möglicherweise handle es sich dabei um zwei unterschiedliche Erkrankungen, die beide mit den Aß-Ablagerungen enden, sagte die Alzheimerforscherin Irene Knüsel vor gut einem Jahr in der SonntagsZeitung (hier) und stellte damit die gängige Theorie infrage. Bei der sporadischen Form seien die Plaques eher eine Folge von stark beschädigten Zellen als deren Ursache. Knüsel, die an der Uni Zürich forschte und heute Gruppenleiterin bei Roche ist, denkt, dass eine chronische Entzündung am Anfang von Alzheimer steht.

Keine Frage, es wird in den nächsten Jahren Fortschritte bei Diagnose und Therapie von Alzheimer geben. Erst letzte Woche etwa haben US-Forscher einen experimentellen Bluttest präsentiert, der die Demenzerkrankung schon drei Jahre vor den ersten Symptomen erkennt. Solche Tests sind zentral, um die Demenz möglichst früh behandeln zu können. Ob Alzheimer allerdings in zehn Jahren wie Krebs behandelbar sein wird, steht in den Sternen. «In der Forschung kann man nie vorhersagen, was in zehn Jahren sein wird», sagt Lötscher, «wir sind aber auf gutem Weg.»

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 16.3.2014

Auf Leben und Tod

Je mehr Patienten eine Pflegende im Spital betreut, desto höher ist das Sterberisiko.
Jetzt analysiert die Schweiz zusätzlich die Rolle der Ausbildung

Quelle: AOK

Quelle: AOK

Von Nik Walter

Egal, ob der Chirurg einen komplizierten Beinbruch flickt, ein künstliches Hüftgelenk einsetzt oder die Gallenblase entfernt: Es hängt nicht nur vom handwerklichen Geschick des Operateurs ab, ob der Patient den Eingriff überlebt. Auch die Zahl der Pflegenden im Spital sowie die Ausbildung der Pflegecrew können über Leben und Tod entscheiden.

Dies ist das Fazit einer europaweiten Studie an 300 Spitälern und über 420 000 Patienten, die ein internationales Forscherkonsortium mit Schweizer Beteiligung letzte Woche im Ärzteblatt «The Lancet» publizierte.

Je geringer der Stress der Pflegenden, desto eher verlassen die Patienten das Spital lebendig. Konkret: Für jeden Patienten, den eine ausgebildete Pflegekraft zusätzlich behandeln muss, steigt gemäss der Studie das Risiko um 7 Prozent, dass ein stationärer Patient in den ersten 30 Tagen nach seiner Aufnahme stirbt. Und je mehr Pflegende in einem Spital einen Bachelor-Abschluss haben, desto geringer ist das Risiko für die Patienten. Ein um zehn Prozent höherer Anteil der Pflegenden mit Bachelor-Abschluss reduziert gemäss der Studie des europäischen RN4CAST-Konsortiums das Sterberisiko der Chirurgie-Patienten um 7 Prozent.

«Man hat gesehen, dass das Pflegepersonal ein wichtiger Faktor für das Überleben der Patienten ist», sagt der Pflegewissenschaftler und Co-Studienautor René Schwendimann von der Uni Basel. Die von der EU finanzierte Studie des RN4CAST-Konsortiums analysierte Spitaldaten aus neun europäischen Ländern, darunter auch der Schweiz. 31 hiesige Spitäler kamen mit in die Auswertung. Welche das sind, darüber schweigt sich die Studie aus.

Im europäischen Vergleich fallen die Schweizer Spitäler nicht gross auf. Das Verhältnis Patient zu Pflegenden (7,8) ist hierzulande genau so Durchschnitt wie die Todesfallrate bei der Entlassung (rund 1,5 Prozent). Nur in einem Punkt stechen die Schweizer Daten heraus. Nirgendwo sonst ist der Anteil von Pflegenden mit Bachelor-Abschluss so tief wie hierzulande. Gerade mal zehn Prozent der hiesigen ausgebildeten Pflegefachkräfte haben einen Fachhochschulabschluss (mit Bachelor), der grosse Rest absolvierte die Pflegeausbildung an einer Höheren Fachschule (mit Diplomabschluss HF). Zum Vergleich: In Norwegen beträgt der Bachelor-Anteil bei den Pflegenden 100 Prozent.

Daraus nun den Schluss zu ziehen, Schweizer Patienten seien gefährdeter als norwegische, sei aber falsch, sagt Schwendimann. Mit der bisherigen Analyse könne man die beobachteten Zusammenhänge nur auf europäischer Ebene interpretieren und nicht auf die einzelnen Länder herunterbrechen.

In der Westschweiz haben mehr Pflegende den Bachelor

Schwendimann und sein Team am Basler Institut für Pflegewissenschaft sind derzeit daran, die Daten für die Schweiz genauer zu analysieren. Dabei geht es unter anderem um die Frage, ob die Ausbildung des Pflegepersonals auch hierzulande relevant ist. In der Westschweiz zum Beispiel ist der Anteil an Pflegenden mit Bachelor-Abschluss höher als in der Deutschschweiz.

Aus einer früheren Schweizer Studie wisse man bereits, dass in jenen Spitälern, in denen pflegerische Tätigkeiten – etwa die Überwachung der Patienten oder die Planung und Dokumentation – öfters zu kurz kommen, die Patienten eher sterben als in Krankenhäusern mit einer geringeren Arbeitsbelastung beim Pflegepersonal, sagt Schwendimann.

Ob auch die Ausbildung eine Rolle spiele, sei allerdings unklar. Man gehe in der Schweizerischen Bildungslandschaft davon aus, so Schwendimann, dass die beiden Ausbildungen «gleichwertig, aber anders» sind. Findet man in der detaillierten Analyse nun aber einen Unterschied bei der Sterblichkeit der Patienten, könnte das brisant werden.

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 9.3.14

Tödliche Ignoranz

Der an der ETH Zürich entwickelte Golden Rice könnte die Ärmsten mit Vitamin A versorgen, doch Greenpeace und Co. bekämpfen ihn noch immer

12-jähriges Mädchen, erblindet wegen Vitamin-A-Mangel  (Foto: Community Eye Health)

12-jähriges Mädchen, erblindet wegen Vitamin-A-Mangel  (Foto: Community Eye Health)

Von Nik Walter

Es ist eine Tragödie, die sich fernab der Öffentlichkeit abspielt. Ein bis zwei Millionen Menschen sterben weltweit jährlich an den Folgen von Vitamin-A-Mangel, ein Drittel davon Kinder unter fünf Jahren. Das sind ungefähr so viele Tote, wie das Aidsvirus HIV oder der Malaria-Parasit jedes Jahr fordern. Zusätzlich erblinden jährlich bis zu 500 000 Kinder wegen zu wenig Vitamin A. Betroffen sind vor allem die Ärmsten der Armen, Menschen in ländlichen Gebieten Südostasiens, Afrikas und Lateinamerikas, die sich fast ausschliesslich von Reis ernähren. Reis enthält natürlicherweise praktisch kein Vitamin A.

Es gäbe aber eine Reissorte, die den täglichen Bedarf an Vitamin A decken könnte: der an der ETH Zürich entwickelte Golden Rice. Diese Sorte enthält zusätzlich ein Gen für das Eiweiss Beta-Carotin, das Karotten, Kürbissen oder Mais die gelb-orange Farbe verleiht. Reiskörner von gentechnisch veränderten Golden-Rice-Pflanzen leuchten ebenfalls gelb oder goldig, daher der Name. Das von der Pflanze produzierte Beta-Carotin kann unser Körper in Vitamin A umwandeln. Golden Rice hat daher das Potenzial, schnell und nachhaltig Millionen von Menschenleben zu retten.

Golden Rice enthält die genetische Bauanleitung für das Eiweiss beta-Carotin, den Vorläufer von Vitamin A (Foto: IRRI)

Golden Rice enthält die genetische Bauanleitung für das Eiweiss beta-Carotin, den Vorläufer von Vitamin A (Foto: IRRI)

Eines der ersten Symptome bei einem Vitamin-A-Mangel ist Nachtblindheit. Später können die Betroffenen ganz erblinden. Zudem schwächt ein Vitamin-A-Mangel das Immunsystem und begünstigt so potenziell tödliche Infektionen. Weltweit leiden 250 Millionen Kinder im Vorschulalter an Vitamin-A-Mangel.

Warum nur, fragt man sich, wird das Potenzial des Golden Rice nicht genutzt? Mehr als 20 Jahre nach Beginn der Forschungsarbeiten ist der Vitamin-A-haltige Reis nämlich noch immer nicht für den Anbau zugelassen. Der Grund für die Verzögerungen liegt aber nicht bei den Forschern – seit 2005 existiert eine Sorte, die genügend Beta-Carotin produziert –, sondern bei den äusserst strengen Vorschriften für den Umgang mit Gentechpflanzen.

Kategorische Ablehnung ist nur schwer nachvollziehbar

«Nach wissenschaftlichen Grundsätzen sind diese Regulierungen nicht haltbar», sagt der emeritierte ETH-Pflanzenbiotechnologe Ingo Potrykus, der zusammen mit Peter Beyer von der Universität Freiburg den Golden Rice entwickelt hat. «Sie werden nur aufrechterhalten wegen des grossen Drucks der Gentechnikgegner.»

Ingo Potrykus (links) und Peter Beyer, die Erfinder des Golden Rice  (Foto: goldenrice.org)

Ingo Potrykus (links) und Peter Beyer, die Erfinder des Golden Rice  (Foto: goldenrice.org)

Umweltorganisationen wie Greenpeace oder Friends of the Earth sowie andere Nichtregierungsorganisationen (NGO) wie Biovision oder Swissaid bekämpfen den Einsatz von gentechnisch veränderten Pflanzensorten in der Landwirtschaft kategorisch und radikal. «Gentechnisch veränderte Pflanzen stellen eine Gefahr für das ökologische Gleichgewicht und die menschliche Gesundheit dar», heisst es beispielsweise auf der Website von Greenpeace.

Die Fakten sprechen indes eine andere Sprache. So kommen Hunderte von Studien – darunter auch eine im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 59 durchgeführte – zum Schluss, dass Gentechpflanzen gleich sicher sind wie traditionell gezüchtete Nutzpflanzen. Die Unbedenklichkeit bestätigen auch die wichtigsten Wissenschaftsbehörden wie die britische Royal Society oder die American Association for the Advancement of Science in entsprechenden Statements.

Die kritische Haltung der NGO kann man halbwegs nachvollziehen, wenn es um Gentechnutzpflanzen geht, die resistent sind gegen Schadinsekten (zum Beispiel Bt-Mais) oder tolerant gegenüber einem Herbizid. Hier geht es nicht um Leben oder Tod. Zudem werden solche Sorten von grossen Saatgutmultis wie Monsanto oder Bayer vertrieben – gegen die viele Menschen ein latentes Misstrauen haben.

Der Golden Rice dagegen hat mit der Saatgutindustrie nichts zu tun. Zwar wurde die aktuell verwendete verbesserte Sorte von Syngenta mitentwickelt, der Schweizer Agrokonzern hat aber die Rechte, wie andere Firmen auch, dem nicht kommerziellen Golden Rice Project abgetreten, das zusammen mit dem ebenfalls nicht kommerziellen International Rice Research Institute (IRRI) auf den Philippinen den Vitamin-A-Reis weiterentwickelt und in lokale Reissorten einkreuzt. Unterstützt werden die Organisationen dabei unter anderen von der Bill-und-Melinda-Gates-Foundation und der Non-Profit-Organisation Helen Keller International, die sich weltweit gegen die Erblindung einsetzt.

Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist die kategorische Ablehnung des Golden Rice durch Greenpeace & Co. schwer nachvollziehbar – vor allem moralisch nicht. Die NGO fürchten in erster Linie, dass mit der Zulassung des Vitamin-A-Reises der grünen Gentechnik Tür und Tor geöffnet werden. In ihrer Sprache ist der Golden Rice daher ein «trojanisches Pferd» der Industrie. Nur: Mit dieser radikalen Einstellung nehmen sie – wissentlich oder unwissentlich – auch den Tod und das Erblinden von Millionen von Kindern in Kauf.

Diese Haltung treibt Patrick Moore auf die Palme. Der Umweltaktivist und Greenpeace-Mitgründer ist heute einer der schärfsten Kritiker der Umweltorganisation. Nur gefühllose Misanthropen könnten sich gegen den Goldenen Reis stemmen, schreibt er. Mit Unterstützung des emeritierten Botanikers Klaus Ammann von der Universität Bern hat Moore die Organisation AllowGoldenRiceNow.org initiiert. Ihr Ziel: Golden Rice soll so rasch wie möglich zugelassen werden.

In der Debatte um den Golden Rice wird von den Gegnern immer wieder suggeriert, es brauche den Vitamin-A-Reis gar nicht, weil es «bereits bewährte und einfache Strategien gegen den Vitamin-A-Mangel gibt», wie Greenpeace Schweiz auf ihrer Website schreibt: «Dazu zählen die Verteilung von (Vitamin-A-)Präparaten, einfache Beimischungen in Grundnahrungsmittel und Gärten in armen Bezirken, um Obst und Gemüse zu erzeugen.»

Das klingt auf den ersten Blick vernünftig, ist aber letztlich eher zynisch. Denn wenn man das Problem angeblich im Griff hat: Warum sterben dann trotzdem jedes Jahr bis zu zwei Millionen Menschen an Vitamin-A-Mangel?

Kommt dazu, dass die Ärmsten der Armen sich nur aus einem Grund vorwiegend von Reis ernähren: Sie können sich nur das Grundnahrungsmittel, nicht aber teureres Gemüse leisten. Auch sind die Verteilprogramme für Vitamin-A-Kapseln teuer: Sie kosten weltweit geschätzte 500 Millionen Dollar pro Jahr. Und sie erreichen bei weitem nicht alle Betroffenen. «Diese Massnahme ist nicht nachhaltig», sagt Ammann. Sobald man mit der Verteilung aufhöre, mache sich der Vitamin-A-Mangel wieder bemerkbar.

Den Befürwortern des Golden Rice geht es aber nicht darum, die verschiedenen Massnahmen zur Bekämpfung des Vitamin-A-Mangels gegeneinander auszuspielen. «Wir wollen die Verteilung der Vitamin-A-Kapseln nicht konkurrenzieren, sondern komplementieren», sagt Potrykus.

Der Golden Rice soll den Betroffenen gratis abgegeben werden, und die Bauern könnten über die Samen frei verfügen. «Das ist nachhaltig», sagt Ammann. Ein Schälchen Goldener Reis deckt gemäss Angaben des Golden Rice Project 60 Prozent des Vitamin-A-Tagesbedarfs.

Den jüngsten Rückschlag erlitt das Projekt letzten Sommer. Am 8. August zerstörten philippinische Aktivisten ein Golden-Rice-Versuchsfeld am Reisforschungsinstitut IRRI. Vier weitere Felder liessen sie unbehelligt. Bei diesen Versuchen ging es vor allem um agronomische Fragen, also etwa darum, wie viel Ertrag die einzelnen Reislinien abwerfen.

Aktivisten zerstören ein Versuchsfeld am IRRI  (Foto: Philippine Department of Agriculture Regional Field Unit 5)

Aktivisten zerstören ein Versuchsfeld am IRRI  (Foto: Philippine Department of Agriculture Regional Field Unit 5)

Bevor der Golden Rice tatsächlich den Betroffenen zur Verfügung stehen kann, muss er noch eine letzte Hürde nehmen: Die Helen-Keller-Stiftung will in einem landesweiten Versuch herausfinden, ob er hält, was er verspricht, also, ob er bei den Betroffenen tatsächlich den Vitamin-A-Mangel bekämpfen kann. «Wenn diese Versuche so positiv herauskommen, wie wir es erwarten, werden wir den Golden Rice weltweit verbreiten», sagt Potrykus.

2016 könnte es so weit sein, dass der Golden Rice in den Philippinen zugelassen wird, etwas später dann auch in Bangladesh und Indien. Ob Ingo Potrykus das noch erleben wird? «Das ist meine grosse Hoffnung», sagt er. Potrykus feierte im Dezember seinen 80. Geburtstag.

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Gentechversuch mit pilzresistentem Weizen

In knapp einem Monat starten Forscher der Universität Zürich einen neuen Feldversuch mit mehreren Linien von gentechnisch verändertem, mehltauresistentem Weizen. Anders als bei den Versuchen im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 59, wo primär der Einfluss der Gentechpflanzen auf die Umwelt getestet wurde, geht es bei den neuen Experimenten mehr um praktische Fragen, etwa, wie viel Ertrag die einzelnen Linien abwerfen. Die Versuche werden auf einem geschützten Feld der Eidgenössischen Forschungsanstalt Agroscope Reckenholz-Tänikon durchgeführt.

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 16.2.2014

Die Gentherapie ist fulminant zurück

Aufgemotzte T-Zellen erkennen im Körper Krebs und zerstören ihn – das ist nur ein Erfolg unter vielen

T-Zelle killt Tumorzelle

T-Zelle killt Tumorzelle

Von Nik Walter

Zuerst eine Chemotherapie, dann eine zweite, oft eine dritte oder sogar eine vierte. Doch immer wieder kam der Blutkrebs zurück. Die diversen Chemiekeulen konnten den 59 Patienten, die an akuter (ALL) oder chronischer lymphatischer Leukämie (CLL) gelitten haben, nicht helfen. Und für eine Knochenmarktransplantation, die den Krebs hätte heilen können, fehlte den einen ein geeigneter Spender, die anderen kamen dafür aus medizinischen Gründen nicht infrage. Der Sensenmann stand bei allen vor der Tür.

Quasi als letzte Hoffnung entschieden sich die 59 Patienten, an einer experimentellen Gentherapie-Studie teilzunehmen. Dabei entnahmen ihnen Ärzte der University of Pennsylvania weisse Blutzellen, pimpten diese T-Zellen im Labor gentechnisch so auf, dass sie die Krebszellen im Körper erkennen und zerstören können, und spritzten die aufgemotzten Killerzellen den Patienten wieder ein. In den Wochen danach litten viele der Patienten für einige Tage an hohem Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit. Dann war der Spuk vorbei. Und der Krebs war (bei vielen) weg.

Zum Beispiel bei Doug Olson. Der heute 67-jährige CLL-Patient erhielt im September 2010 als einer der Ersten die gentechnisch veränderten Killerzellen. «Er hatte pfundweise Krebs», sagt der Immunpathologe Carl June, einer der behandelnden Ärzte, in einem Video der Universität. «In weniger als einer Woche war alles weg.»

«Diese Resultate sind dramatisch positiv»

Ähnlich erging es 24 anderen Patienten. Auch sie seien heute krebsfrei, berichteten die Ärzte kürzlich an der Jahrestagung der American Society of Hematology in New Orleans; einige wie Doug Olson bereits seit drei Jahren. (Von einer Heilung sprechen Ärzte erst nach fünf krebsfreien Jahren.) Bei weiteren 21 ist der Krebs mindestens teilweise verschwunden, nur bei 13 Patienten hat die Behandlung bislang nicht gewirkt.

«Diese Resultate sind dramatisch positiv», sagt Sandro Rusconi, der in den 1990er- und 2000er-Jahren ein Nationales Forschungsprogramm zum Thema Gentherapie geleitet hat und heute für die Hochschulentwicklung im Kanton Tessin zuständig ist. Man müsse aber noch abwarten, bis die Ergebnisse in einer grösseren klinischen Studie bestätigt werden, ergänzt Rusconi. Eine solche will Novartis in den USA durchführen, denn die Schweizer Pharmafirma hat die T-Zell-Technologie der University of Pennsylvania lizenziert.

Die fast schon wundersame Krebsrückbildung bei Leukämie-Patienten ist derzeit das spektakulärste Beispiel für den Erfolg der Gentherapie, aber bei weitem nicht das einzige. Weltweit laufen zurzeit fast 2000 klinische Versuche, im Rahmen derer neuartige gentherapeutische Verfahren gegen eine Vielzahl von Erkrankungen getestet werden. Dazu zählen Augenerkrankungen, angeborene Immun- und Muskelschwächen, vererbte Blutgerinnungsstörungen sowie Parkinson. Meist wurden erst wenige Patienten behandelt, doch diese oft mit Erfolg. Der Enthusiasmus jedenfalls ist weit herum zu spüren.

Die einst problematischen Genvehikel sind heute sicherer

Das war nicht immer so. 1999 schien die Gentherapie, noch bevor sie richtig Fuss gefasst hatte, fast am Ende. Damals starb der 18-jährige US-Amerikaner Jesse Gelsinger, der freiwillig an einer experimentellen Gentherapie für eine angeborene Leberfunktionsstörung teilgenommen hatte, an der Behandlung mit genveränderten Adenoviren. Noch am Tag, an dem ihm Billionen dieser Viren in die Blutbahn geschleust wurden, begann sein Immunsystem zu überhitzen, sein Blut verklumpte, Organe versagten. Vier Tage später war der Teenager tot.

Drei Jahre danach folgte der nächste Dämpfer. In Paris und London behandelten Ärzte ab dem Jahr 2000 Kinder, die an einem «schweren kombinierten Immundefekt» (SCID) litten, mit einer Gentherapie. Die todkranken Junioren erhielten das gesunde Gen, verpackt in einem sogenannten Retrovirus, in ihre Blutbahn gespritzt. Anfänglich sah alles sehr gut aus. Die meisten der jungen Patienten erholten sich, konnten ein normales Leben anfangen, ohne die stetige Angst, am nächsten Infekt zu sterben.

Doch dann entwickelten fünf der behandelten Kinder eine Leukämie. Schuld war das Retrovirus, das eigentlich nur als Vehikel für das heilende Gen dienen sollte. Retroviren haben die (oft gewünschte) Eigenschaft, ihre Genfracht im Erbgut der befallenen Zelle fix zu integrieren (siehe Grafik). Offenbar aktivierten sie dabei auch Krebsgene, welche die Leukämie auslösten. Vier der fünf Betroffenen erholten sich vom Blutkrebs, ein Patient starb.

Diese und ähnliche Vorkommnisse veranlassten Forscher weltweit, sicherere und besser geeignete Genvehikel zu entwickeln. So kommen heute anstelle der Adenoviren, die eine starke Immunreaktion auslösen können, vermehrt Adeno-assoziierte Viren (AAV) zum Einsatz. Diese sind viel kleiner, werden vom Immunsystem ignoriert und integrieren wie die Adenoviren ihre Fracht nicht stabil im Erbgut, sondern auf einem ringförmigen Molekül im Zellkern. Teilt sich die Zelle, geht das Therapie-Gen aber verloren. Daher werden AA-Viren vor allem dort eingesetzt, wo sich die Zellen kaum teilen, etwa bei Hirn- oder Lebererkrankungen.

Anstelle der problematischen Retroviren setzen Forscher heute oft auf Lentiviren, Abkömmlinge des Aidsvirus HIV. Diese gehören zwar auch zu den Retroviren, haben aber zwei Vorteile: Sie können so «programmiert» werden, dass sie kaum mehr Krebsgene anschalten, und vor allem integrieren sie – im Gegensatz zu den früher benutzten Retroviren – ihre Fracht auch in das Erbgut von sich nicht teilenden Zellen. «Das ist ein enormer Qualitätsfortschritt», sagt Sandro Rusconi.

Dass die neuen Genvehikel tatsächlich besser und sicherer funktionieren, zeigt eine Reihe jüngster experimenteller Therapien:

→ Fünf Kinder, die an einer bestimmten Form von SCID leiden, haben sich dank einer lentiviralen Gentherapie vollständig erholt. Bislang gibt es keine Anzeichen von Nebenwirkungen.

→ Ähnlich erfolgreich waren Gentherapieversuche mit drei Patienten, die am Wiskott-Aldrich-Syndrom (Immunschwäche), und drei Patienten, die an einer metachromatischen Leukodystrophie (Nervenzellschwund) litten.

→ Sechs Patienten, die eine erblich bedingte Bluterkrankheit (Hämophilie) haben und 2011 mit einer AAV-Gentherapie behandelt wurden, produzieren noch immer die einst fehlenden Gerinnungseiweisse.

Vor allem bei den angeborenen Immunschwächen, von denen mittlerweile rund 200 Varianten bekannt sind, könnte die Gentherapie ein neues Zeitalter einläuten. In den letzten Jahren habe man 20 bis 30 Patienten mit verschiedenen Immunkrankheiten behandelt, sagt der Gentherapie-Experte Manuel Grez vom Institut für Biomedizinische Forschung Georg-Speyer-Haus in Frankfurt. «Alle sind von ihren Krankheiten geheilt und führen ein mehr oder weniger normales Leben.»

Grez entwickelt, zusammen mit forschenden Ärzten des Kinderspitals Zürich, eine Gentherapie für die septische Granulomatose (CGD). Bei dieser angeborenen Immunschwäche können die Betroffenen Pilz- und Bakterieninfektionen nicht bekämpfen. Wie bei den meisten ähnlichen Krankheiten hat bislang nur eine Knochenmarktransplantation Hoffnung auf Heilung gebracht.

Auch die neuen Methoden bergen potenzielle Risiken

Schon seit über 15 Jahren tüfteln Grez, der inzwischen emeritierte Professor für Kinderheilkunde Reinhard Seger vom Kinderspital Zürich und seine Nachfolgerin, die klinische Immunologin und Kinderärztin Janine Reichenbach, an besseren Therapien für die CGD. In den 2000er-Jahren wurden in Frankfurt und Zürich vier Patienten mit einer (retroviralen) Gentherapie behandelt. Alle profitierten davon, aber drei von ihnen entwickelten auch eine Art Knochenmark-Leukämie.

Nun steht die neuste Generation von Genvehikeln bereit. Noch dieses Jahr wollen die Zürcher und Frankfurter Forscher, zusammen mit Kollegen in London und Paris und der französischen Biotechfirma Généthon, einen klinischen Versuch für CGD-Patienten mit Lentiviren starten. «Ich habe grosse Hoffnungen», sagt Grez. Und auch Janine Reichenbach vom Kinderspital Zürich sieht Grund für einen «vorsichtigen Optimismus».

Blind sollte der Optimismus indes nicht sein. Denn auch die neuen Methoden und Genfähren bergen potenzielle Risiken. So greifen die aufgemotzten T-Zellen, die den Leukämiezellen so spektakulär den Garaus machen, auch die B-Zellen des Immunsystems an. Diese produzieren normalerweise Antikörper und bilden mit den T-Zellen denjenigen Teil des Immunsystems, der auf Eindringlinge reagiert. Auf ihrer Oberfläche tragen B-Zellen ein Eiweiss, das auch die Leukämiezellen auszeichnet und das den Killer-T-Zellen als Angriffspunkt dient.

Bislang scheint diese Nebenwirkung den Erfolg der Therapien aber nicht zu schmälern. Denn die betroffenen Patienten erhalten die fehlenden Antikörper, sogenannte Immunglobuline, regelmässig gespritzt. Und das scheint den Mangel an körpereigenen B-Zellen wettzumachen.

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 19. Januar 2014

Trickserei im Regenwald

Der Film «Das Geheimnis der Bäume» ist ein intimes botanisches Porträt

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Von Nik Walter

Nirgends ist der Kampf ums Überleben offensichtlicher und vielfältiger als im tropischen Regenwald. Da wird getrickst, getäuscht, gewürgt und verdrängt, und wer gerade eine neue List erfunden hat, besitzt im Survival-Poker die besten Karten. Das alles gilt nicht nur für die unzähligen Ameisen, Käfer, Vögel und Säugetiere, die sich im Regenwald tummeln, sondern in genau gleichem Mass auch für alle Bäume, Sträucher und Stauden, die dort gedeihen.

Bäume? Sträucher? Im ständigen Kampf ums Überleben? Das kann nicht sein, mag man denken, im Regenwald wächst und gedeiht doch alles so üppig, und die Bäume leben sowieso eine halbe Ewigkeit! Und doch stimmt die Metapher vom Kampf ums Dasein. Jeder Baum ist, wie jedes andere Lebewesen auch, in erster Linie ein Individuum, das sich fortpflanzen will. Und das sich gegen alle anderen, die dasselbe Ziel haben, durchsetzen muss.

Mit anderen Worten: Bäume stecken voller Leben, Freuden und Dramen. Dies ist auch eine der zentralen Botschaften des Films «Das Geheimnis der Bäume» des französischen Regisseurs Luc Jacquet, der nächsten Donnerstag in die Kinos kommt. «Ich dachte zuerst, Bäume seien tot, doch dann habe ich gemerkt, dass sie ungemein lebendig sind», sagt Francis Hallé ganz am Anfang des Films. Der französische Botaniker ist Ideengeber für den Film und gleichzeitig die einzige Person darin und der Erzähler – auf Deutsch mit der tragenden Stimme von Bruno Ganz.

Hallé ist ein Beobachter, ein Morphologe, der von der botanischen Vielfalt des tropischen Regenwalds so beeindruckt ist, dass er sein berufliches Leben lang alles, was er darin entdeckt, auf Skizzen festhält.

Francis Hallé

Francis Hallé

«Die Gestalt von Pflanzen kann man nicht fotografieren», sagt der Botaniker Christian Körner von der Universität Basel, der den Film mit der SonntagsZeitung angeschaut hat. «Man kann sie nur erfassen, wenn man sie zeichnet. Es braucht dafür einen gewissen Grad an Abstraktion.» Körner hat den 75-jährigen Hallé zwar nie persönlich getroffen, kennt aber dessen «grosses Werk», eine Beschreibung der Tropenökologie mit unzähligen Vegetationsskizzen, wie er sie im Film zeichnet.

Animationen zeigen modularen Aufbau der Pflanzen

Die zeichnerische Abstraktion beschränkt sich im Film aber nicht auf Hallés Skizzen. Luc Jacquet, der vor acht Jahren für seinen Film «Die Reise der Pinguine» den Oscar für den besten Dokumentarfilm erhalten hat, setzt gezielt auch auf Computeranimationen, die den Zeichnungen des Botanikers nachempfunden sind. Da spriessen animierte Schösslinge aus der Erde, rollen sich Farne aus, bilden Bäume im Zeitraffer fingerartige Blätter, transportieren Gefässe in den Stämmen Nährstoffe und Wasser hinauf und hinab, schwirrt Blütenstaub durch den Regenwald oder schicken Bäume Stoffe in den Himmel, um so Regen anzulocken.

Christian Körner mag die Animationen. Sie würden das Prinzip des modularen Baus der Pflanzen perfekt zeigen. «Bei den Tieren sind schon alle Organe angelegt, bei den Pflanzen hingegen kommen wie bei einem Legobaukasten immer wieder neue Module hinzu.» Wissenschaftlich sei das alles weitgehend korrekt. Und vor allem: «Die Animationen sind genial, weil sie einfache Prinzipien überhöhen», sagt Körner.

Genau dies war die Absicht von Jacquet: «Ich möchte, dass die Zuschauer etwas spüren und die Prozesse intuitiv verstehen.» Auf ausführliche Erklärungen verzichtet er dafür weitgehend. Dies hat zur Folge, dass manche Szenen, ohne erklärende Worte, fast schon esoterisch wirken – obwohl sie eigentlich wissenschaftlich fundiert sind.

Auf die Spitze treibt es Jacquet, als die Bäume, wie in einem Stammesritual, den Himmel um Regen bitten, indem sie farbige Botenstoffe nach oben schicken. «Die Zuschauer sollen dabei denken: ‹Oh, das ist unglaublich, der Wald macht den Regen›», sagtJacquet. Dass dabei der reale Prozess weitgehend unverständlich bleibt, nimmt der Regisseur in Kauf.

Das sei schade, sagt Körner. Mit ein, zwei Sätzen hätte man dem Ganzen einen Sinn geben können. Etwa, dass Pflanzen als Abfallprodukt der Fotosynthese Isopren absondern und dass diese Schwebstoffe als Kondensationskeime zur Wolkenbildung beitragen.

Über solche kleine Schwächen kann man getrost hinwegsehen. Zumal die Animationen nur einen kleinen Teil des Films ausmachen. Dieser lebt vor allem von grandiosen Naturszenen und zieht einen mehrfach in den Bann:

→ Mit atemberaubend schönen Bildern aus den üppigen Baumkronen – einmal sitzt Hallé in einer Astgabel 60 Meter über Boden und skizziert in aller Ruhe.

→ Mit erstaunlichen Tieraufnahmen – etwa, als eine orangengrosse Frucht des Moabi-Baums aus 50 Meter Höhe einem Elefanten auf den Rücken knallt.

→ Und mit einem klaren roten Faden: dem fast tausend Jahre langen Prozess von der Zerstörung des Regenwalds über Pionierpflanzen, Sekundärpflanzen bis hin zum vollständig regenerierten Primärregenwald.

Bäume haben viele Tricks, um die Fortpflanzung zu sichern

Vor allem aber gelingt es Jacquet ausgezeichnet, die schiere Vielfalt – auf der Fläche von nur einem Hektar Regenwald wachsen zum Beispiel über 200 verschiedene Baumarten – und den grossen Konkurrenzkampf im Urwald um Wasser, Nährstoffe und vor allem um Licht zu vermitteln.

So müssen sich die Bäume allerlei Tricks einfallen lassen, um sich fortzupflanzen. Der Moabi-Baum etwa lockt mit schmackhaften Früchten Elefanten an, welche die Samen weit tragen und verteilen. Oder der Ameisenbaum Cecropia, der kleine «Weisswürstchen» absondert, die Ameisenlarven zum Verwechseln ähneln und Ameisen anlocken. Diese besiedeln den Baum und schützen ihn vor Raupen und anderen Fressfeinden. «Ein klassisches Beispiel von Ko-Evolution», sagt Körner.

Apropos Evolution: In einer Szene, in der Jacquet anhand von Passionsblumen und Schmetterlingen, die ihre Eier auf den Pflanzen ablegen, das evolutionäre Wettrüsten zweier Organismen erklärt, hat sich der einzige wissenschaftliche Fehler eingeschlichen: In «nur wenigen Dekaden» seien Dutzende von neuen Schmetterlings- und Passionsblumenarten entstanden, sagt der Erzähler. Das stimmt natürlich nicht. Auch eine rasend schnelle Evolution spielt sich über viel längere Zeiträume ab, über Zehntausende von Jahren.

Das tut dem Film aber keinen Abbruch. «Wer ihn gesehen hat», sagt Körner, «wird einen neuen Bezug zum Tropenwald haben.»

Dieser Text wurde am 5.1.14 in der SonntagsZeitung publiziert