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Schwelbrand im Hirn

Chronische Entzündungen spielen bei Alzheimer eine zentrale Rolle. Rheuma- und Diabetesmittel können den geistigen Verfall womöglich bremsen

via UZH

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Von Nik Walter

Sie sind so etwas wie das Markenzeichen einer Alzheimererkrankung: die Ablagerungen von Beta-Amyloid-Eiweissen (Aß) im Gehirn, die sogenannten Plaques. Diese Verklumpungen, so die gängige Lehrmeinung, zerstören die Gehirnzellen und führen über Jahre oder Jahrzehnte unweigerlich in die Demenz. Gehirne verstorbener Alzheimerpatienten sind voll mit diesen Plaques.

So erstaunt es nicht, dass Forscher weltweit in den letzten Jahren riesige Anstrengungen unternommen haben, die Aß-Eiweisse aus dem Verkehr zu ziehen. Doch mit dieser Strategie ist ein klinischer Versuch nach dem anderen grandios gescheitert, zuletzt vergangenen Sommer zwei hoffnungsvolle klinische Grossstudien der Pharmafirmen Johnson & Johnson, Pfizer und Eli Lilly. Es herrscht grosse Ernüchterung.

Was lief falsch? Eine definitive Antwort kennen die Forscher noch nicht, doch es mehren sich die Hinweise darauf, dass Aß möglicherweise nicht der grosse Übeltäter ist, sondern bei den meisten Alzheimererkrankungen eher ein Mitläufer. «Aß-Ablagerungen sind eher eine Konsequenz einer stark beschädigten Zelle», sagt die Alzheimerforscherin Irene Knüsel von der Universität Zürich. Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, dass man das falsche Ziel ins Visier genommen hat.

Erste Zweifel an der Aß-These lieferte vor gut zehn Jahren die sogenannte Nonnenstudie. Ein Team um den Epidemiologen David Snowdon untersuchte über Jahre die Lebensgeschichte und geistigen Fähigkeiten von rund 600 älteren katholischen Ordensschwestern. Nach deren Tod analysierten die Forscher das Gehirn der Frauen. Dabei zeigte sich Erstaunliches: Im Gehirn einiger dementer Nonnen fanden die Forscher kaum Plaques. Umgekehrt waren Gehirne anderer Schwestern voll mit Plaques (und Tau-Fibrillen, einer anderen Form von Alzheimer-typischen Ablagerungen), obwohl die Frauen bis zum Ableben geistig völlig fit waren.

Trotz vieler Plaques im Gehirn geistig fit bis zum Tod

Da stellt sich die Frage: Was schützte diese Nonnen (und andere Menschen) vor dem geistigen Verfall? Das wollte ein Forscherteam des Massachusetts General Hospital in Boston herausfinden. Dazu analysierten sie die Gehirne von 46 Verstorbenen. Ein Drittel von ihnen litt an Alzheimer und zeigte im Gehirn die entsprechenden krankhaften Veränderungen. Ein zweites Drittel war geistig gesund und hatte keine Plaques im Gehirn. Die dritte Gruppe hingegen hatte zwar viele Plaques und Tau-Fibrillen im Gehirn, blieb aber bis zum Tod geistig fit.

Die Hirne dieser dritten Gruppe nahmen die Forscher um Beatriz Perez-Nievas Gomez und Teresa Gomez-Isla genauer unter die Lupe, wie sie kürzlich auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience in New Orleans berichteten. Und sie entdeckten tatsächlich einen wesentlichen Unterschied: Gewisse Zellen des Immunsystems, die Mikroglia, fehlten in den Gehirnen der geistig Fitten. Im Gegensatz dazu waren die Mikroglia in den Gehirnen von Dementen mit vielen Plaques prominent vertreten.

Das Fehlen der Mikroglia könnte also der Schlüssel sein bei der Frage, was die Nonnen trotz Plaques vor dem Absturz in die Demenz bewahrte. Dazu muss man wissen: Mikroglia sind das Anzeichen eines Entzündungsprozesses. Je mehr dieser Zellen aktiv sind, desto stärker die Entzündung im Gehirn. Da kommt unweigerlich der Gedanke auf: Ist Alzheimer womöglich eine entzündliche Erkrankung, der geistige Zerfall die Folge einer chronischen Gehirnentzündung?

Die These ist gewagt, aber sie wird unter Alzheimerforschern zusehends ernst genommen. Mittlerweile gibt es etliche Beobachtungsstudien, die einen Zusammenhang zwischen chronischen Entzündungen und dem Auftreten von Alzheimer nahelegen. So ist das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, erhöht, wenn jemand im Lauf des Lebens schwere Kopfverletzungen oder einen Schlaganfall erleidet, an Diabetes erkrankt, zu hohen Blutdruck hat oder übergewichtig ist. All diese Leiden gehen einher mit einer chronischen Entzündungsreaktion im Körper.

Umgekehrt erkranken Rheumapatienten, die regelmässig entzündungshemmende Medikamente wie Ibuprofen schlucken, deutlich seltener an Alzheimer.

Das wiederum provoziert die Frage: Könnten entzündungshemmende Medikamente gar zur Alzheimerprävention taugen? «Ja», sagen Forscherinnen wie Sue Griffin von der University of Arkansas, Begründerin und «alte Dame» der Entzündungsthese bei Alzheimer, oder Beatriz Perez-Nievas Gomez aus Boston.

Die Sache ist indes wohl nicht so einfach. Denn vor wenigen Jahren musste eine Alzheimerpräventionsstudie mit zwei Entzündungshemmern wegen Sicherheitsbedenken abgebrochen werden. Eine nachträgliche Analyse der Daten ergab ein gemischtes Bild. Bei Patienten, die schon erste Anzeichen von Demenz zeigten, verschlechterten die Entzündungshemmer den Krankheitsverlauf. Bei geistig fitten Probanden hingegen schienen die Mittel tatsächlich vor einer Demenz zu schützen. «Es kommt anscheinend sehr darauf an, wann man beginnt, die Entzündungshemmer zu schlucken», sagte die Neurowissenschaftlerin Donna Wilcock von der University of Lexington an der Neuroscience-Tagung.

Operationen können den geistigen Abbau beschleunigen

Noch sind die klinischen Daten zur Rolle von Entzündungshemmern bei der Alzheimerprävention eher spärlich. Es ist daher noch nicht definitiv geklärt, ob, wie und zu welchem Zeitpunkt diese Medikamente Menschen vor Alzheimer schützen. Dafür mehren sich die (tier)experimentellen Erkenntnisse zur Rolle der Entzündungen bei Alzheimer:

→ Werden Mäuse als Föten und später im Leben mit Substanzen behandelt, die eine chronische Infektion simulieren, entwickeln diese Mäuse eine alzheimerähnliche Erkrankung. Das vermeldete ein Team um die Zürcher Neurobiologin Irene Knüsel vergangenen Sommer im Fachblatt «Journal of Neuroinflammation».

→ Ein internationales Forscherteam um Kári Stefánsson von der isländischen Firma Decode Genetics hat kürzlich eine neue Genvariante entdeckt, die zwar selten ist, aber das Alzheimerrisiko deutlich erhöht. Das betroffene Gen TREM2 codiert die Bauanleitung für ein Eiweiss, das auf Mikrogliazellen aktiv ist und damit bei Gehirnentzündungen an vorderster Front beteiligt ist.

→ Ältere Menschen leiden nach einer Operation oft an einem «postoperativen geistigen Abbau». US-Forscher konnten nun in Mäuseexperimenten zeigen, dass nicht die Narkose (wie bislang vermutet), sondern die Operation selber den geistigen Abbau beschleunigt. Und zwar, indem sie eine Entzündungsreaktion im Gehirn auslöst, wie die Forscher im September im Fachblatt «Annals of Surgery» berichteten.

→ Ein Team von Zürcher und Berliner Forschern konnte zeigen, dass die beiden Entzündungsbotenstoffe IL-12 und IL-23 an der Entstehung von Alzheimer beteiligt sind. Schalteten die Forscher die beiden Botenstoffe in Mäusen aus, hatten die Nager weniger A ß in ihrem Gehirn und bauten geistig weniger ab. «Jetzt müsste man einen klinischen Versuch planen», sagt Teamleader Burkhard Becher vom Institut für experimentelle Immunologie an der Universität Zürich. Denn es gibt bereits ein Medikament auf dem Markt (Stelara, Janssen-Cilag), das genau diese beiden Botenstoffe aus dem Verkehr ziehen kann.

Die Versuche sind «absolut lohnenswert»

Doch nicht nur moderne Entzündungshemmer wie Stelara oder klassische wie Ibuprofen oder Naproxen stehen derzeit im Fokus der Alzheimerforschung, sondern auch Diabetesmedikamente. Aus Tierversuchen weiss man, dass die sogenannten GLP-1-Analoga sowohl entzündungshemmend wirken, als auch die Aß-Eiweissablagerungen vermindern und den geistigen Zerfall bremsen können.

In den USA läuft seit zwei Jahren ein erster klinischer Versuch, bei dem Alzheimerpatienten im Frühstadium zweimal täglich mit Exenatid behandelt werden. Die Forscher wollen dabei herausfinden, ob die Einnahme des Medikaments den Verlauf der Demenzerkrankung bremsen kann. Einen ähnlichen Versuch plant Christian Hölscher von der University of Ulster in Grossbritannien. Der Neuroforscher will ab nächstem Jahr 200 Patienten während 12 Monaten mit Liraglutid, einem anderen GLP-1-Analog, behandeln. «Wir sind sehr hoffnungsvoll», sagte Hölscher an der Neuroscience-Konferenz.

Die Hoffnung gilt derweil nicht nur für die Versuche mit den GLP-1-Analoga. Generell steigt die Zuversicht, dass die Bekämpfung der Entzündungsprozesse im Gehirn tatsächlich etwas bringt für die Alzheimertherapie. Der Zürcher Immunologe Burkhard Becher zum Beispiel hält solche Versuche für «aussichtsreich und absolut lohnenswert». «Das ist einer der wenigen Punkte, wo wir intervenieren können. Ich wüsste aktuell nichts Besseres.»

Box: Chronische Entzündung am Anfang von Alzheimer

In den letzten 20 Jahren stand in der Alzheimer-Forschung vor allem eine These im Vordergrund: die Amyloid-Kaskade. Demnach führt die übermässige Produktion von A-beta-Eiweissen (A ß) aus dem Vorläufer-Eiweiss APP zu toxischen Ablagerungen (Plaques) und zum Absterben von Nervenzellen im Gehirn. Allerdings lassen Ungereimtheiten Zweifel an dieser These aufkommen (siehe Haupttext): So gibt es Menschen, die trotz vieler Plaques im Gehirn geistig völlig fit sind.

Die Amyloid-Kaskaden-These, folgert Irene Knüsel von der Uni Zürich nun im Fachblatt «Nature Reviews Neurology», stimme möglicherweise nur für die erblich bedingten (schon ab dem 30. Lebensjahr auftretenden) Alzheimerfälle, nicht aber für die viel häufigeren, «sporadischen» Erkrankungen im Seniorenalter. Für Letztere gelte ein anderer Mechanismus, der zwar auch mit den Aß-Plaques ende; am Anfang des Nervenzellsterbens stehe aber eine chronische Entzündung. 

Laut Knüsel und ihrem Mitarbeiter Dimitrije Krstic sieht das Fortschreiten der Erkrankung in etwa so aus (s. Grafik): Eine chronische Entzündung (1) – zum Beispiel ausgelöst durch Diabetes, Übergewicht, eine Depression oder Parodontitis – führt dazu, dass das Eiweiss Tau verändert wird (phosphoryliert, pTau) und in der Folge Eiweisse in den Kabeln der Nervenzellen (Axone) nicht mehr richtig abgebaut und entsorgt werden (2). Die chronische Entzündung aktiviert zudem Immunzellen, sogenannte Mikroglia, welche die Entzündung verstärken. In der Folge verstopft das Axon mit Eiweissfragmenten, APP häuft sich an, es bilden sich Ausstülpungen, das Axon beginnt zu lecken, die Reizleitung wird unterbrochen, die Synapsen (Nervenverbindungen) verkümmern, und die Zelle stirbt ab (3). Zurück bleiben die senilen Plaques, voll mit Aß-, APP- und anderen Eiweissfragmenten sowie die abgestorbenen Nervenzellen voll verklumpter Tau-Fibrillen.

 

aus: SonntagsZeitung vom 9.12.2012