Beim «Neuroscience 2005» in Washington waren 35 000 Wissenschaftler und der Dalai Lama mit dabei
Von Nik Walter
Einen ersten Eindruck vom weltweit grössten Forschertreffen bekommt man bereits auf dem Flug nach Washington. Die Schlafforscherin Irene Tobler von der Universität Zürich sitzt auf einem Gangplatz, eine Gruppe von Doktoranden aus Freiburg und Lausanne verstaut lange Kartonröhren mit Postern in den Handgepäckfächern. Und der Berner Pharmakologieprofessor Erwin Sigel vertieft sich schon kurz nach dem Abheben in die Kongressunterlagen. Knapp die Hälfte der Passagiere in der ausgebuchten Boeing 767 hat das gleiche Ziel: die Jahrestagung der Society for Neuroscience, das «Neuroscience 2005» im Washington Convention Center.
Das jährliche Hirnforschertreffen - diese Woche fand es zum 35. Mal statt - ist für viele Neurowissenschaftler der wichtigste Anlass im Jahr. Nirgends sonst können sie ihre neusten Resultate einem grösseren Publikum präsentieren, nirgends sonst finden sie so viele Ideen für neue Experimente, und nirgends sonst ist es für Doktoranden leichter, Kontakte zu anderen Labors zu knüpfen.
Deshalb, und auch weil die Neurowissenschaften derzeit einen gewaltigen Boom erleben, pilgern jedes Jahr mehr Forscher zum Hirn-Mekka. Knapp 35 000 sind es diesmal, ein neuer Rekord, wie Carol Barnes, die Präsidentin der Society, stolz verkündete. Damit ist das fünftägige Meeting die wohl grösste wissenschaftliche Konferenz überhaupt; ähnlich gigantisch sind nur noch die Jahrestreffen der amerikanischen Gesellschaften für Herz- und Krebsforschung mit jeweils knapp 30 000 Teilnehmern.
Vier Stunden müssen für die Ausstellung reichen
Noch eindrücklicher als die Teilnehmerzahl ist die Konferenz selber. Wie in einem riesigen Ameisenhaufen wuseln die Wissenschaftler durch die Gänge des Convention Centers, Treppen rauf und runter. Die einen rennen in den Vortrag über neue Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung, andere suchen den Raum, in dem Kollegen gerade über neue Strategien gegen chronische Schmerzen diskutieren. Wieder andere brauchen eine Pause und dösen in einer Ecke vor sich hin.
Die meisten allerdings zieht es in den Bauch des Kongresszentrums: eine etwa 500 Meter lange und 100 Meter breite Halle, in der Forscher aus aller Welt ihre neusten Erkenntnisse auf Postern an Stellwänden zur Schau stellen. Einen halben Arbeitstag lang haben jeweils rund 1700 von ihnen Zeit, ihre Resultate auszustellen; dann heisst es abräumen und der nächsten Schicht mit 1700 Postern Platz machen. Insgesamt werden dieses Jahr rund 17 000 Arbeiten präsentiert - eine unvorstellbare Menge an wissenschaftlichen Daten.
Die Posterhalle ist der Ort, wo man am besten Leute finden kann - wenn nicht gerade eine Menschentraube den Kontakt verhindert. «Am liebsten gehe ich zu den Postern und spreche mit den Leuten», sagt der Alzheimerforscher Tony Wyss-Coray, den es seit zehn Jahren zum Neuroscience zieht. «Es geht ums Leute Treffen und darum, neue Ideen zu sammeln», sagt der Schweizer, der Professor an der Stanford University ist.
Auf den Posterrundgängen trifft man immer wieder Schweizer. 234 zählt die offizielle Statistik dieses Jahr. Esther Stöckli beispielsweise ist Dauergast an der Tagung. «Das Meeting ist sehr inspirierend», sagt die Entwicklungsbiologin vom Zoologischen Institut der Universität Zürich. Auch für die Neuroanatomin Cordula Nitsch von der Universität Basel ist das Neuroscience wichtig: «Man trifft Hunderte von Kollegen.»
Neben viel intellektueller Stimulation bietet das Hirnforschertreffen auch Unterhaltung. An den geselligen «Socials» kann es bisweilen sogar lustig zugehen, wie die Alzheimerforscher an ihrem Karaoke-Abend bewiesen. «Ich bin von Kopf bis Fuss auf Tau eingestellt», sang eine achtköpfige Gruppe deutscher Alzheimerforscher. «Tau» ist jenes Eiweiss, das in Gehirnen von Alzheimerpatienten zu fadenförmigen Bündeln verklumpt - und dieses Jahr aus der wissenschaftlichen Versenkung auferstanden ist.
Für Novizen ist das Neuroscience besonders eindrücklich. Thomas Bäriswyl beispielsweise, Doktorand im Labor von Esther Stöckli, findet den Anlass «extrem imposant. Ich hätte nie gedacht, dass hier alles so gut funktioniert.»
Der Dalai Lama sprach den US-Forschern aus der Seele
In der Tat: Die Organisation ist bemerkenswert, auch wenn man nicht nur vor den Kaffeebars oft Schlange stehen muss. Shuttlebusse karren die Teilnehmer von frühmorgens bis spätabends von und zu ihren Hotels, ganze Hallenteile sind für die Gepäckaufbewahrung reserviert. Die Zeiten der Vorträge und Veranstaltungen werden fast ausnahmslos eingehalten, Verspätungen gibt es nicht. Hilfreich dabei: Alle Teilnehmer konnten schon im Vorfeld mittels einer Software ihren Weg durch die 17 000 Präsentationen planen.
Einen Programmpunkt hatten gleich 14 000 Teilnehmer dick angestrichen: den Auftritt des Dalai Lamas am Samstag. Der tibetische Geistliche lobte die Wissenschaftler und forderte sie auf, die Welt mit skeptischem Blick zu analysieren: «Wenn die Wissenschaft buddhistische Sichten widerlegt, muss sich der Buddhismus ändern.» Solche Aussagen sind insbesondere für die US-Forscher eine Wohltat, in deren Land die religiöse Rechte dabei ist, die Wissenschaft zu unterwandern.
Neben dem Auftritt des Dalai Lama gab es viele weitere Höhepunkte. So wurden auf Postern und an Pressekonferenzen aufgelistet, was sich alles positiv auf die geistigen Leistungen, die Gesundheit des Gehirns und die Bildung neuer Hirnzellen auswirken kann: Sportliche Betätigung gehört dazu, aber auch intellektuelle Herausforderungen und bestimmte Nahrungsmittel wie Mandeln.
Diese Erkenntnisse liessen sich in Washington direkt umsetzen. Für den Sport sorgten allein schon die 5 bis 10 Kilometer, die man Tag für Tag im gigantischen Convention Center zu Fuss zurücklegte. Um die intellektuellen Reize musste man sich ebenfalls nicht kümmern. Nur mit dem Essen war das so eine Sache. Wirklich gesunde Dinge kamen zu kurz, dafür naschte man hier noch schnell einen Blueberry Muffin (immerhin: Blaubeeren sollen ebenfalls gut sein fürs Hirn) oder dort ein Turkey Sandwich auf lausigem Brot.
Nach fünf Tagen Konferenz flogen die meisten Teilnehmer erschöpft nach Hause. Dort, in den eigenen Labors, gilt es nun, die Datenflut umzusetzen - und sich aufs Neuroscience 2006 in Atlanta vorzubereiten. Denn wer das Meeting einmal erlebt hat, der wird wieder kommen.
Aus der SonntagsZeitung vom 20.11.2005