Der Ökologe und Zivilisationskritiker Paul R. Ehrlich über zu viele Kinder, Krieg um Wasser und den Kollaps der Menschheit
Interview: Nik Walter
Der Biologe Paul R. Ehrlich warnt seit über 40 Jahren vor einer Überbevölkerung des Planeten und der Zerstörung der Lebensräume. Sein Buch «The Population Bomb» (1968) wurde zum Bestseller, brachte ihm aber auch viel Kritik ein. Heute sagt er, das Buch sei eher zu optimistisch gewesen. Ehrlich ist Präsident des Center for Conservation Biology an der Stanford University. Der 80-Jährige ist noch immer äusserst engagiert, wie er letzte Woche am Jahrestreffen der American Association for the Advancement of Science (AAAS) in Boston bewies. Die SonntagsZeitung sprach mit Ehrlich nach seinem Vortrag.
Sie sind über 80 Jahre alt und wirken noch immer voller Energie und zielstrebig. Was treibt Sie an?
Gestern Abend dinierte ich hier in Boston mit zwei Enkeln plus drei Grossenkeln. Die Familienbande halten mich am Laufen.
Sie gelten als «notorischer Schwarzmaler». Warum sind Sie so pessimistisch, was die Zukunft der Menschheit angeht?
(Schmunzelt) Ja, ich bin ein Schwarzmaler. Der Himmel fällt uns auf den Kopf. Meine Kollegen sind auch Schwarzmaler.
In den letzten 40 Jahren hat sich doch aber gezeigt, dass die Menschheit das Ernährungsproblem lösen kann und generell viel widerstandsfähiger ist, als Sie in Ihrem Buch «The Population Bomb» 1968 prognostiziert hatten.
Das stimmt so nicht. Ich wurde etwa für die Aussage kritisiert, wir hätten den Kampf, die Menschheit zu ernähren, verloren. Seither starben jedes Jahr Zehntausende Menschen an Hunger. Heute hungert etwa eine Milliarde Menschen, und weitere zwei Milliarden sind stark unterernährt. Fast die Hälfte der globalen Population ist davon betroffen.
Dank der grünen Revolution produzieren wir heute mehr als genug Nahrung. Es hapert nur bei der Verteilung.
Das stimmt. Heute produzieren wir so viel, dass sich alle anständig ernähren könnten. Ein Fehler, den ich machte, war der, dass ich das Tempo der grünen Revolution unterschätzte. Wir befinden uns aber in einer Sackgasse. Es gibt keine neuen Technologien, die uns weiterbringen könnten.
Was ist mit der Aquakultur? Da gibt es hoffnungsvolle Entwicklungen in Richtung nachhaltige Produktion, etwa mit Bakterien oder Hefe als Nahrungsquellen für Zuchtfische.
Viele dieser Entwicklungen können extrem hilfreich sein. Die meisten funktionieren aber erst im kleinen Massstab. Und noch gibt es grosse Probleme mit der Aquakultur. Wir müssen da noch viel grössere Anstrengungen unternehmen. Wir müssen Wege finden, die Fische zu füttern, ohne dabei die Ozeane zu zerstören oder Futter zu verwenden, mit dem man Menschen ernähren könnte. Es gibt da ein grosses Potenzial, doch davon hören wir schon seit 50 Jahren.
Auch in der Pflanzenbiotechnologie gibt es interessante Entwicklungen wie trockenheitstolerante oder salzresistente Sorten.
Auch diese Technologien sollte man vorantreiben, und man müsste es viel energischer tun. Es wird bei weitem nicht genug in landwirtschaftliche Forschung investiert. Denn der Trend bei den Erträgen ist rückläufig. Wir müssen in den nächsten 40 Jahren zusätzliche 2,5 Milliarden Menschen ernähren und dies in einer Zeit, in der die Erträge zurückgehen.
Die Erträge werden weniger?
Ja, wegen des Klimawandels, des Bodenverschleisses, des Leerpumpens von Grundwasservorkommen und des Verlusts an Artenvielfalt. Die natürlichen Feinde der Pflanzenschädlinge und die Bestäuber sterben schneller aus als die Schädlinge. Die Landwirtschaft steckt in grossen Problemen, doch die meisten Menschen merken es nicht. Zudem ist die Landwirtschaft eine der grössten Verursacherinnen von Treibhausgasen, sie ist vollkommen abhängig von fossilen Brennstoffen. Auch das kümmert anscheinend fast niemanden.
Wie kann die Landwirtschaft nachhaltiger werden?
Die Bevölkerung muss schrumpfen, der Verbrauch von Wasser, Energie und Dünger muss viel effizienter werden. Zudem sollte man weniger Fleisch essen, und zwar aus gesundheitlichen und ökologischen Gründen.
Essen Sie selber Fleisch?
Ich ernähre mich heute vegetarischer als früher. Ich sage nicht, dass man gar kein Fleisch mehr essen soll. So sind viele Menschen an den Küsten auf Fische angewiesen, weil man auf einem Korallenriff keinen Weizen anbauen kann. Wenn sich jemand aus moralischen Gründen vegetarisch ernährt, ist das gut so. Wenn jemand aus ökologischen Gründen weniger Fleisch isst, ist das auch gut.
Sie fordern, die globale Bevölkerung auf 8,6 Milliarden Menschen zu beschränken. Wie soll das funktionieren?
Gemäss der besten Schätzung, die wir haben, kann die Erde maximal 1,5 bis 2 Milliarden Menschen einigermassen nachhaltig ernähren. Um dahin zu kommen, müssen wir den Frauen auf der ganzen Welt die gleichen Rechte und Möglichkeiten geben. Dann fällt die Geburtenrate. Alle Menschen müssen zudem Zugang zu modernen Verhütungsmethoden haben. Damit muss man anfangen.
Und sonst?
Der andere grosse Treiber ist der Überkonsum der Reichen, also von Ihnen und von mir. Das Konsumverhalten kann man aber schnell ändern, das weiss man aus der Geschichte, zum Beispiel vom Zweiten Weltkrieg. Die Anpassung des Konsumverhaltens macht mir daher kaum Sorgen.
Sie sind trotz allem verhalten optimistisch, dass sich der grosse Kollaps der Zivilisation verhindern lässt?
Das ist gar keine Frage, dass wir den Kollaps verhindern könnten. Die Frage ist doch, ob wir die dazu nötigen Schritte auch tun. Schauen Sie: Keines der Probleme, das wir letzte Woche an der AAAS-Tagung diskutiert hatten, spielte im Präsidentschaftswahlkampf eine Rolle. Die Politiker debattierten über Dinge wie den «Fiscal cliff» und Schulden. Doch diese Probleme können alle durch Verhandlungen gelöst werden. Mit der Natur hingegen kann man nicht verhandeln. Wenn die Politiker den nötigen Wechsel anstreben, dann bin ich optimistisch.
Über das Bevölkerungswachstum und die Geburtenkontrolle spricht fast niemand, selbst die UNO-Klimabehörde IPCC nicht.
Es ist politisch nicht korrekt, darüber zu reden. Jeder liebt Kinder, und viele Menschen glauben, man könne so viele Kinder haben, wie man wolle. Da spielt die Religion eine wichtige Rolle. Die USA sind das am stärksten überbevölkerte Land der Erde, doch unsere Politiker tun nichts dagegen, weil sie Angst vor der Kirche haben. In katholischen Ländern ist das ganz anders. Länder wie Italien, Polen oder Frankreich haben die tiefsten Geburtenraten, da scheren sich die Menschen einen Deut um die Weisungen der Kirche.
Sie prangerten in ihrem Vortrag auch das World Economic Forum an.
Ja, das ist die Organisation, welche die Welt zerstören will, die Superreichen, die in ihren Jets angeflogen kommen und sich untereinander darüber unterhalten, wie sie noch reicher werden können. Immerhin: Langsam kommen sie zur Einsicht, dass sie nicht immer reicher werden können, wenn sie nichts für die Umwelt machen. Das ist schön zu sehen. Und übrigens: Ich liebe die Schweiz, vor allem das Berner Oberland im Sommer.
Andere Experten verkünden, dass die Menschheit die Bevölkerungskrise mithilfe neuer Technologien bewältigen kann.
Das sind Techno-Idioten. Seit 1968 höre ich das. Man müsse sich keine Sorgen machen, das Leben sei auch mit fünf oder sechs Milliarden Menschen wunderbar. Meine Antwort darauf: Diese Leute sagen mir nicht, wie wir im Jahr 2050 neun Milliarden Menschen ernähren sollen. Wenn das so leicht wäre, warum machen wir es dann nicht schon heute?
Wie hoch schätzen Sie die Chance, dass die Menschheit einem Kollaps entgehen kann?
Bei diesem Thema debattiere ich heftig mit meinem Kollegen Jim Brown von der University of New Mexico. Ich sage, unsere Chance, den Kollaps zu vermeiden, beträgt etwa zehn Prozent. Und wir arbeiten hart daran, daraus elf Prozent zu machen. Jim sagt, ich spinne total, die Chance sei höchstens ein Prozent.
Wie würde ein Kollaps der Zivilisation vonstatten gehen?
Das kann auf verschiedene Weise passieren. Es gibt da ein paar Dinge, die man nicht richtig abschätzen kann: Eskaliert zum Beispiel wegen der Wassersituation der Konflikt zwischen Indien und Pakistan, und beginnen sie einen Atomkrieg, dann würden auch die Schweiz und die USA verschwinden, weil so ein Krieg die globale Wirtschaft zerstören würde. Oder: Je mehr Menschen wir haben, desto höher ist die Chance für Epidemien. Es kann aber auch langsam und stetig abwärtsgehen, weil sich die Ernährungskrise verschärfen wird und es deswegen immer mehr Kriege geben wird. Ich hoffe, wir können das alles verhindern. Ich selber plane, dem durch meinen Tod zuvorzukommen.
Erschienen in der SonntagsZeitung vom 24.2.2013