texte

Trickserei im Regenwald

Der Film «Das Geheimnis der Bäume» ist ein intimes botanisches Porträt

05-il-etait-une-foret-640.jpg

Von Nik Walter

Nirgends ist der Kampf ums Überleben offensichtlicher und vielfältiger als im tropischen Regenwald. Da wird getrickst, getäuscht, gewürgt und verdrängt, und wer gerade eine neue List erfunden hat, besitzt im Survival-Poker die besten Karten. Das alles gilt nicht nur für die unzähligen Ameisen, Käfer, Vögel und Säugetiere, die sich im Regenwald tummeln, sondern in genau gleichem Mass auch für alle Bäume, Sträucher und Stauden, die dort gedeihen.

Bäume? Sträucher? Im ständigen Kampf ums Überleben? Das kann nicht sein, mag man denken, im Regenwald wächst und gedeiht doch alles so üppig, und die Bäume leben sowieso eine halbe Ewigkeit! Und doch stimmt die Metapher vom Kampf ums Dasein. Jeder Baum ist, wie jedes andere Lebewesen auch, in erster Linie ein Individuum, das sich fortpflanzen will. Und das sich gegen alle anderen, die dasselbe Ziel haben, durchsetzen muss.

Mit anderen Worten: Bäume stecken voller Leben, Freuden und Dramen. Dies ist auch eine der zentralen Botschaften des Films «Das Geheimnis der Bäume» des französischen Regisseurs Luc Jacquet, der nächsten Donnerstag in die Kinos kommt. «Ich dachte zuerst, Bäume seien tot, doch dann habe ich gemerkt, dass sie ungemein lebendig sind», sagt Francis Hallé ganz am Anfang des Films. Der französische Botaniker ist Ideengeber für den Film und gleichzeitig die einzige Person darin und der Erzähler – auf Deutsch mit der tragenden Stimme von Bruno Ganz.

Hallé ist ein Beobachter, ein Morphologe, der von der botanischen Vielfalt des tropischen Regenwalds so beeindruckt ist, dass er sein berufliches Leben lang alles, was er darin entdeckt, auf Skizzen festhält.

Francis Hallé

Francis Hallé

«Die Gestalt von Pflanzen kann man nicht fotografieren», sagt der Botaniker Christian Körner von der Universität Basel, der den Film mit der SonntagsZeitung angeschaut hat. «Man kann sie nur erfassen, wenn man sie zeichnet. Es braucht dafür einen gewissen Grad an Abstraktion.» Körner hat den 75-jährigen Hallé zwar nie persönlich getroffen, kennt aber dessen «grosses Werk», eine Beschreibung der Tropenökologie mit unzähligen Vegetationsskizzen, wie er sie im Film zeichnet.

Animationen zeigen modularen Aufbau der Pflanzen

Die zeichnerische Abstraktion beschränkt sich im Film aber nicht auf Hallés Skizzen. Luc Jacquet, der vor acht Jahren für seinen Film «Die Reise der Pinguine» den Oscar für den besten Dokumentarfilm erhalten hat, setzt gezielt auch auf Computeranimationen, die den Zeichnungen des Botanikers nachempfunden sind. Da spriessen animierte Schösslinge aus der Erde, rollen sich Farne aus, bilden Bäume im Zeitraffer fingerartige Blätter, transportieren Gefässe in den Stämmen Nährstoffe und Wasser hinauf und hinab, schwirrt Blütenstaub durch den Regenwald oder schicken Bäume Stoffe in den Himmel, um so Regen anzulocken.

Christian Körner mag die Animationen. Sie würden das Prinzip des modularen Baus der Pflanzen perfekt zeigen. «Bei den Tieren sind schon alle Organe angelegt, bei den Pflanzen hingegen kommen wie bei einem Legobaukasten immer wieder neue Module hinzu.» Wissenschaftlich sei das alles weitgehend korrekt. Und vor allem: «Die Animationen sind genial, weil sie einfache Prinzipien überhöhen», sagt Körner.

Genau dies war die Absicht von Jacquet: «Ich möchte, dass die Zuschauer etwas spüren und die Prozesse intuitiv verstehen.» Auf ausführliche Erklärungen verzichtet er dafür weitgehend. Dies hat zur Folge, dass manche Szenen, ohne erklärende Worte, fast schon esoterisch wirken – obwohl sie eigentlich wissenschaftlich fundiert sind.

Auf die Spitze treibt es Jacquet, als die Bäume, wie in einem Stammesritual, den Himmel um Regen bitten, indem sie farbige Botenstoffe nach oben schicken. «Die Zuschauer sollen dabei denken: ‹Oh, das ist unglaublich, der Wald macht den Regen›», sagtJacquet. Dass dabei der reale Prozess weitgehend unverständlich bleibt, nimmt der Regisseur in Kauf.

Das sei schade, sagt Körner. Mit ein, zwei Sätzen hätte man dem Ganzen einen Sinn geben können. Etwa, dass Pflanzen als Abfallprodukt der Fotosynthese Isopren absondern und dass diese Schwebstoffe als Kondensationskeime zur Wolkenbildung beitragen.

Über solche kleine Schwächen kann man getrost hinwegsehen. Zumal die Animationen nur einen kleinen Teil des Films ausmachen. Dieser lebt vor allem von grandiosen Naturszenen und zieht einen mehrfach in den Bann:

→ Mit atemberaubend schönen Bildern aus den üppigen Baumkronen – einmal sitzt Hallé in einer Astgabel 60 Meter über Boden und skizziert in aller Ruhe.

→ Mit erstaunlichen Tieraufnahmen – etwa, als eine orangengrosse Frucht des Moabi-Baums aus 50 Meter Höhe einem Elefanten auf den Rücken knallt.

→ Und mit einem klaren roten Faden: dem fast tausend Jahre langen Prozess von der Zerstörung des Regenwalds über Pionierpflanzen, Sekundärpflanzen bis hin zum vollständig regenerierten Primärregenwald.

Bäume haben viele Tricks, um die Fortpflanzung zu sichern

Vor allem aber gelingt es Jacquet ausgezeichnet, die schiere Vielfalt – auf der Fläche von nur einem Hektar Regenwald wachsen zum Beispiel über 200 verschiedene Baumarten – und den grossen Konkurrenzkampf im Urwald um Wasser, Nährstoffe und vor allem um Licht zu vermitteln.

So müssen sich die Bäume allerlei Tricks einfallen lassen, um sich fortzupflanzen. Der Moabi-Baum etwa lockt mit schmackhaften Früchten Elefanten an, welche die Samen weit tragen und verteilen. Oder der Ameisenbaum Cecropia, der kleine «Weisswürstchen» absondert, die Ameisenlarven zum Verwechseln ähneln und Ameisen anlocken. Diese besiedeln den Baum und schützen ihn vor Raupen und anderen Fressfeinden. «Ein klassisches Beispiel von Ko-Evolution», sagt Körner.

Apropos Evolution: In einer Szene, in der Jacquet anhand von Passionsblumen und Schmetterlingen, die ihre Eier auf den Pflanzen ablegen, das evolutionäre Wettrüsten zweier Organismen erklärt, hat sich der einzige wissenschaftliche Fehler eingeschlichen: In «nur wenigen Dekaden» seien Dutzende von neuen Schmetterlings- und Passionsblumenarten entstanden, sagt der Erzähler. Das stimmt natürlich nicht. Auch eine rasend schnelle Evolution spielt sich über viel längere Zeiträume ab, über Zehntausende von Jahren.

Das tut dem Film aber keinen Abbruch. «Wer ihn gesehen hat», sagt Körner, «wird einen neuen Bezug zum Tropenwald haben.»

Dieser Text wurde am 5.1.14 in der SonntagsZeitung publiziert