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Der bestvermessene See der Welt

Löcher vor Kreuzlingen, eine unterseeische Quelle und Methanvorkommen: Bei der Erkundung des Bodensees stiess das Team des Projekts Tiefenschärfe auf jede Menge Überraschungen

Bodensee Illu

Die Ruinaulta, die Rheinschlucht bei Flims, gehört zu den spektakulärsten Landschaften in der Schweiz. Die weissen, bis zu 400 Meter hohen Kalksteinfelsen, durch die sich der Vorderrhein schlängelt, sind als «Grand Can­yon der Schweiz» weltberühmt.

Dass der Rhein nur 100 Kilometer flussabwärts einen ähnlich imposanten Canyon geformt hat, weiss hingegen kaum jemand. Bei Altenrhein, dort, wo der Rhein bis vor gut hundert Jahren in den Bodensee floss, stürzte er sich einst, für das menschliche Auge weitgehend verborgen, in eine 70 Meter tiefe, steilwandige Schlucht unter Wasser. Auf dem Seeboden mäan­drierte der Rhein zeitweise weiter, in einem 20 bis 30 Meter tiefen Flussbett, bis weit in den See hinaus. Erst auf der Höhe von Romanshorn verlieren sich die Flussspuren am Grund.

Die Schlucht und das einstige Flussbett sind noch heute am Seeboden gut zu erkennen. Dies ist vielleicht eine der verblüffendsten, aber bei weitem nicht die einzige aussergewöhnliche neue Erkenntnis, die das Projekt «Tiefenschärfe – Hochauflösende Vermessung Bodensee» zutage gefördert hat. Im Rahmen des länderübergreifenden, noch bis 2015 laufenden Projekts wird der Bodensee – nach Platten- und Genfersee der drittgrösste See Mitteleuropas – komplett neu kartiert und dreidimensional modelliert. Finanziert wird das Projekt von der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) und vom EU-Regio­nalprogramm Interreg IV.

Verblüffendes Zusammenspiel von See- und Grundwasser

«Kein See in dieser Grössenordnung ist je so präzise vermessen worden», sagt Projektkoordina­tor Martin Wessels vom Institut für Seenforschung in Langenargen (D). Das hat damit zu tun, dass am «Schwäbischen Meer» gleich zwei neue hochpräzise Technologien zum Einsatz kamen: zum einen die neuste Generation eines Fächer­echolots, bei dem vom Forschungsschiff Kormoran aus gleichzeitig 400 Sonarstrahlen den Seegrund abtasteten; zum anderen das Airborne Hydromapping, eine brandneue Weiterentwicklung der laserbasierten Fernerkundungstechnologie Lidar, mit der auch Strukturen unter Wasser bis zu einer Tiefe von etwa acht Metern kartiert werden können (s. Grafik).

Laserscanning

«Mit der Kombination der beiden Technologien kann man das Objekt Seeboden aus einem Guss erfassen», sagt Wessels. Derzeit sind die Forscher damit beschäftigt, die beiden Datensätze miteinander zu verschmelzen. Mitte 2015 sollen die hochauflösenden Geländemodelle und Seekarten fertig und laut Wessels vielseitig nutzbar sein. Sie sollen zu einem verbesserten Schutz der Pfahlbausiedlungen in Flachwasser­zonen beitragen, sie sollen auch helfen, mögliche Gefahren durch instabile Hänge und daraus resultierende Hangrutschungen zu erkennen oder das Zusammenspiel von See- und Grundwasser besser zu verstehen.

Gerade dieses Zusammenspiel war eine der grossen Überra­schun­­­gen der bisherigen Auswertungen. Wie die Tiefenbilder erahnen lassen, tritt im Überlingersee Grundwasser aus. Jedenfalls fehlen an mehreren Stellen grosse Stücke der Sedimentbedeckung der felsigen Molasse. Jetzt müssen die Forscher vor Ort noch beweisen, dass da tatsächlich «Wasser rausgeht», wie es Wessels formuliert. Erhärten sich die Vermutungen, dann wankt ein Dogma: «Bislang ging man davon aus, dass Seewasser und Grundwasser weitgehend voneinander getrennt sind», sagt Wessels.

Sowieso: Überraschungen erlebte das Tiefenschärfe-Team bei der Analyse der Daten zuhauf: eine unterseeische Quelle etwa, wo Wasser aus dem Seegrund austritt und einen kleinen Fluss bildet; kreisrunde 6 bis 7 Meter ­tiefe Löcher vor Kreuzlingen, über deren Entstehung die Forscher derzeit nur rätseln können; oder Spuren gigantischer Hang­rutschun­gen vor der Mündung der Goldach. «Es ist wirklich ein Entdecken», sagt der Geologe Flavio Anselmetti von der Universität Bern. «Das gibt es heute in der Wissenschaft nicht mehr oft.»

Schiffswracks und abgestürzte Flugzeuge als «Beigemüse»

Anselmetti war wesentlich an dem Projekt Tiefenschärfe beteiligt. Er führte mit seinem Team die Fächerecholot-Messungen durch. Seine Arbeitsgruppe ist die einzige in der Schweiz, die ein solches Gerät besitzt – es kostet mehrere Hunderttausend Franken. Rund drei Monate lang fuhren die Forscher über den See, immer schön parallel zum Hang und peinlich darauf achtend, dass die Bahnen zur Hälfte überlappen, damit jeder Bereich doppelt abgedeckt ist. Mehr als 5000 Kilometer legten die Forscher dabei zurück. «Das ist ein sehr, sehr langweiliger Job.» Dafür entschädigen die unzähligen Entdeckungen.

Dazu zählen auch nicht geologische Funde wie etwa Wracks versenkter Schiffe oder abgestürzter Flugzeuge. An diesem «üblichen Beigemüse» seien die Forscher zwar nicht primär interessiert, sagt Anselmetti, aber befassen müssen sie sich damit trotzdem. Um einen Ansturm von Tauchern und Hobbyarchäologen zu verhindern, hat die Projektleitung daher entschieden, grössere Wracks gar nicht in die Karte aufzunehmen. Dasselbe gilt für Trinkwasserfassungen und weitere sensible Installationen – ein Giftanschlag auf die Trinkwasserversorgung am Überlingersee vor neun Jahren hat diesbezüglich die Bevölkerung aufgeschreckt.

Der Wissenschaft öffnen die neuen 3-D-Bodenseekarten ganz neue Welten. So gibt es Beweise für Methanvorkommen im Seegrund oder Hinweise auf mögliche geologische Bruchzonen. «Da sind wir sehr scharf drauf», sagt Anselmetti. Wessels seinerseits möchte ein besonderes Auge auf die Entwicklung der (neuen) Rheinmündung werfen. Wie viel Wasser fliesst einfach oben rein, wie viel stürzt in die Tiefe? Wie verändert sich die Durchmi­schung mit der Klimaerwärmung? Und wie entwickelt sich das Flussbett unter Wasser weiter?

Möglicherweise entsteht da ja gerade der nächste Rhein-Can­yon, den noch niemand kennt.

 

«Zürichsee ist vor Tsunamis nicht gefeit»

In Schweizer Seen finden sich Spuren vergangener Erdbeben

Vor 13 800 Jahren erlebte Zürich eine Naturkatastrophe gewaltigen Ausmasses. Der Zürichsee war damals viel grösser als heute. Die Lindenhof-Endmoräne staute den See, sein Spiegel lag 12 Meter über den heutigen 406 m ü. M. Er sei wohl mit dem Walensee und über das Seez- und das Rheintal möglicherweise sogar mit dem Bodensee verbunden gewesen, erzählt Flavio Anselmetti von der Universität Bern.

Dann bebte die Erde. Massive Hangrutschungen im See und ein Binnensee-Tsunami waren die Folge. Die Riesenwelle schwappte über die Endmoräne, diese durchbrach – entweder wegen des Erdbebens oder des Tsunamis – an vier Stellen, und eine gigantische Wassermasse flutete das Limmattal.

Eine Gefahrenkarte für alle Schweizer Seen

«Massive Rutschungen, die Tsu­namis auslösen, passieren in der Schweiz etwa alle 1000 Jahre», sagt Anselmetti. Der Paläo­seis­mologe ist spezialisiert auf prähistorische Erdbeben. 1601 zum Beispiel löste ein Erdbeben in der Innerschweiz Hang­rutschungen im Vierwaldstättersee und damit eine rund vier Meter hohe Tsunamiwelle aus.

Die Spuren für die historischen und prähistorischen Erdbeben findet Anselmetti am Grund der Schweizer Seen. Seit gut zwei Jahren besitzt seine Arbeitsgruppe ein hoch modernes Fächerecholot (s. Haupttext / Grafik oben), mit dem er seither im Auftrag von Swisstopo und anderen Organisationen schon verschiedene Schweizer Seen neu vermessen hat, darunter den Genfer-, den Vierwaldstätter- und den ­Zürichsee. Anders als beim Bodensee wurde bei diesen Seen die seichte Uferzone nicht ­zusätzlich mit ­Lidar-Vermessungen ergänzt.

Anselmettis Ziel ist es, Unter­wassergefahrenkarten von allen Schweizer Seen zu erstellen. «Wir können gefährdete Hänge identifizieren», sagt Anselmetti. Allerdings sei es sehr schwierig bis unmöglich vorauszusagen, wann ­genau sich ein Tsunami ereignen könnte. «Auch der Zürichsee ­ ist nicht gefeit vor solchen Ereignissen.»

 

Zahlen und Fakten

536 km2 gross ist der Bodensee

0,1 Grad Kelvin. Diese minimen ­Temperaturunterschiede konnte eine Wärmebildkamera an Bord des Flugzeugs in der Uferzone registrieren

1893 wurde der Bodensee zum ersten Mal vermessen, durch Ferdinand Graf von Zeppelin

5550 km hat das Forschungsschiff ­Kormoran beim Sammeln der ­Fächerecholotdaten zurückgelegt

254 Meter tief ist der Bodensee an seiner tiefsten Stelle (zwischen Uttwil und Fischbach)

612 000 Euro kostet das Projekt. Die Schweiz beteiligt sich mit 159 120 Euro

400 Sonarstrahlen tasten beim ­Fächerecholot den Untergrund gleichzeitig ab

280 km Uferzone vermassen die ­Forscher mit der Hydromapping-­Technologie aus dem Flugzeug in nur vier Tagen

1000-fach höhere Auflösung mit den neuen Technologien als bei der zweiten Vermessung 1986–1990

 

erschienen in der SonntagsZeitung vom 8. Juni 2014