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Tausende Meniskusoperationen sind unnötig

Hochkarätige Studien bezweifeln den Nutzen der Arthroskopie bei Meniskusschäden. Trotzdem boomt der Eingriff

Arthroskopische Knieoperation

Arthroskopische Knieoperation

Nik Walter

18 364-mal. So oft entfernten Orthopäden im Jahr 2012 in Schweizer Spitälern einen angerissenen Meniskus mit einem minimal invasiven Eingriff, einer Arthroskopie. Damit belegt die «Meniskektomie am Knie, arthroskopisch, partiell» Platz zwei auf der Liste der (chirurgischen) Eingriffe an hiesigen Spitälern, weit vor Blinddarmoperationen zum Beispiel oder Gallenblasenentfernungen. Nur Kaiserschnitte werden hierzulande noch öfter durchgeführt.

Bei solch hohen Zahlen an Eingriffen müsste man eigentlich davon ausgehen, dass der Nutzen des Eingriffs klar belegt ist. Weit gefehlt. Es mehren sich im Gegenteil die Hinweise, dass eine arthroskopische Meniskusopera­tion gegenüber anderen Behandlungsoptionen wie etwa Physiotherapie keinen Vorteil bringt.

Bei einer Arthroskopie («Gelenkspiegelung») führen Orthopäden Instrumente und Kamera über zwei kleine Schnitte in das Knie ein. Typischerweise wird bei einer Meniskusoperation das Knie gespült, der Knorpel poliert und lose Knorpelteile entfernt. Der Eingriff gilt als sehr sicher, ist kaum mit Risiken verbunden, und die Patienten können in der Regel noch am selben Tag nach Hause.

Arthroskopischer Eingriff: Reparatur eines gerissenen Meniskus

Arthroskopischer Eingriff: Reparatur eines gerissenen Meniskus

Obwohl der Nutzen zweifelhaft ist, wird fleissig operiert

Kein Wunder, boomt die Meniskektomie dermassen. In den USA wird der Eingriff 700 000-mal pro Jahr durchgeführt, in Grossbritannien rund 80 000-mal. Auch in der Schweiz steigt die Zahl der Eingriffe immer noch Jahr für Jahr. 2011 operierten Orthopäden 16 511-mal einen beschädigten Meniskus, 2003 tätigten sie erst 10 549 Eingriffe. In zehn Jahren hat sich die Zahl der Meniskus­operationen also knapp verdoppelt. «Diese Zahlen sind erschreckend», sagt der Arthrosespezialist Lukas Wildi von der Klinik für Rheumatologie am Unispital Zürich. «Ich kann nicht nachvollziehen, warum das trotz gutem Spontanheilungspotenzial immer noch so viel gemacht wird.»

Dass viel zu viele Menisken operiert werden, weiss man im Grunde schon länger. In den letzten zehn Jahren zweifelten diverse Studien an der Wirksamkeit der therapeutischen Arthroskopie bei degenerativen Meniskusschäden. Ohne Folgen für die Praxis, es wurde fleissig weiteroperiert.

Letztes Jahr dann schreckten gleich zwei viel beachtete Studien die Orthopädenzunft auf – beide wurden im renommierten Ärzteblatt «New England Journal of Medicine» veröffentlicht. In der einen Untersuchung verglichen Ärzte des Brigham and Women’s Hospital in Boston die Meniskektomie mit Physiotherapie bei 351 Patienten mit Meniskusriss und leichter Arthrose. Sowohl bei der Funktionsfähigkeit des Knies wie auch bei den Schmerzen fanden die Forscher nach einem Jahr keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen.

In der zweiten Studie behandelten finnische Ärzte Meniskus­patienten entweder mit einer therapeutischen oder einer Schein­arthroskopie. Bei Letzterer wurden die Instrumente zwar ins Knie eingeführt, aber nichts gemacht. Wieder lautete das Resultat: kein Unterschied zwischen Behandlung und Scheinbehandlung. Und erst diese Woche bilanziert das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) in einem neuen Bericht: «Arthros­kopie des Kniegelenks bei Arthrose: kein Nutzen erkennbar.»

Trotzdem: Es wird weiteroperiert, was das Zeug hält. Einerseits verleite der wirtschaftliche Druck Kliniken zu mehr Eingriffen als nötig, sagt Wildi. «Freie Opera­tionskapazitäten lassen sich gut mit kurzfristig eingeplanten Arthroskopien füllen.» Der Nachweis einer Wirksamkeit müsse gegenüber dem Kostenträger leider nicht erbracht werden. Das sieht Sandro Fucentese, Teamleiter Kniechirurgie an der Uniklinik Balgrist in Zürich, ähnlich: «Man macht zu viel Arthroskopie, weil wir ein zu grosses Angebot an orthopädischen Kliniken haben.»

Andererseits sind die Patienten laut mehreren Experten ­heute auch sehr ungeduldig. «Sie wollen Ski fahren, Tennis spielen, aber auf keinen Fall warten», sagt Stefan Eggli von der Klinik Ortho­pädie Sonnenhof in Bern.

Auch für Eggli wird zu schnell arthroskopiert. «18 000 Eingriffe sind gefühlsmässig wahnsinnig viel. Es nähme mich wunder, wie viele übrig blieben, würde man die Patienten konservativ behandeln.» Eggli selber tut genau dies. Physiotherapie, mildes Krafttraining, Velofahren – dies ist erst mal das Programm für all seine Patienten mit degenerativen Meniskusrissen. «Nach drei Monaten hat weit mehr als die Hälfte keine Beschwerden mehr.»

Bis 30 Millionen Franken vermeidbare Kosten jährlich

Etwa jeder dritte Patient habe aber Einklemmungssymptome, sagt Eggli, es knacke im Knie, das Gelenk blockiere. «Das ist sehr unangenehm.» Bei diesen Patienten sei eine Arthroskopie angesagt. «Am Tag nach der Opera­tion ist alles wieder gut», sagt ­Eggli, «der Schmerz ist weg.»

Wie viele der 18 000 Patienten unnötig operiert werden, ist schwierig zu eruieren. Kein Orthopäde würde zugeben, eine unnötige Operation durchgeführt zu haben. Trotzdem dürfte ­aufgrund von Egglis Erfahrungen und Einschätzungen anderer Experten mindestens jeder zweite Eingriff überflüssig sein. Das bedeutet: Etwa 10 000 Kniearthroskopien sind möglicherweise unnütz; einzige Profiteure sind die Orthopäden und die Kliniken.

Rund 3000 Franken koste eine arthroskopische Meniskektomie, sagt Eggli, «all inclusive». Hochgerechnet heisst dies: Jahr für Jahr verursachen nicht indizierte Knieoperationen Kosten von rund 30 Millionen Franken.

Wie man diese Kosten senken und die grassierende Operationslust der Orthopäden eindämmen könnte, dafür gibts kein Patentrezept. Eggli hat aber eine Empfehlung: Man müsste jeden Patienten mit degenerativem Meniskusriss zwingend zuerst drei Monate konservativ behandeln. «Oft hilft einfach nur abwarten.»

Anatomie des Knies (Kniescheibe fehlt)

Anatomie des Knies (Kniescheibe fehlt)

Das hilft bei Kniearthrose

Eine Kniearthrose wird durch den Verschleiss der Knorpelflächen im Knie verursacht. Sie hat einen wellenförmigen Verlauf mit schmerzhaften und weniger schmerzhaften Phasen. Diese Massnahmen können nachweislich helfen, die Schmerzen zu lindern:

Bewegung Leichtes Krafttraining, Velofahren, Physiotherapie.

Medikamente Nicht steroidale Entzündungshemmer (Diclofenac, Ibuprofen etc.), auch als Salben.

Injektionen Kortison lindert die Entzündung temporär, Hyaluronsäure «schmiert» das Gelenk.

Glukosamin-/Chondroitinsulfat Wirkung umstritten, könnte dem Knorpelabbau entgegenwirken.

 

Der Text wurde in der SonntagsZeitung vom 18.5.2014 publiziert