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Aufs falsche Pferd gesetzt

Am Anfang von Alzheimer steht das Tau-Eiweiss – doch Pharmafirmen bekämpften jahrelang ein anderes

Schnitt durch ein gesundes Gehirn (rechts) und dasjenige eines Alzheimer-Pateinten (links) Pasieka / SPL / Agentur Focus

Schnitt durch ein gesundes Gehirn (rechts) und dasjenige eines Alzheimer-Pateinten (links) 
Pasieka / SPL / Agentur Focus

Die Schuldigen am geistigen Zerfall schienen ausgemacht: Die «Plaques» im Gehirn von Alzheimer-Patienten – klumpige Ablagerungen von Beta-Amyloid-Eiweissen (Aß) – galten lange als Hauptursache der Demenz­erkrankung. Diverse Pharmafirmen, darunter Roche, Eli Lilly oder Pfizer entwickelten und testeten Wirkstoffe, welche diese Plaques auflösen und den geistigen Zerfall stoppen oder gar rückgängig machen sollten. Doch in grossen klinischen Stu­dien versagten alle diese einst so hoffnungsvollen Medikamente.

Den Grund für das Scheitern könnte nun eine Analyse ­mehrerer Tausend Gehirne verstorbener Demenzpatienten liefern. Der Studie zufolge stehen nicht die Aß-Ab­lagerungen am Ursprung der Demenz, sondern andere Proteine: sogenannte Tau-Tangles oder Neurofibrillen. Das sind Knäuel von Tau-Eiweissen, die normalerweise helfen, das Zellskelett zu stützen, im Gehirn von Alzheimerpatienten aber die zellschädigenden Tangles bilden – und dies schon lange vor den Aß-Ablagerungen. 

Für ihre Studie konnten die US-Forscher auf eine grosse Gehirnbank zurückgreifen. Das Team um Melissa Murray von der Mayo Clinic in Jacksonville, Florida, bestimmte bei den über 3600 Gehirnen die für Alzheimer typischen Aß- und Tau-Ablagerungen, wie sie im Fachblatt «Brain» berichteten. Eine statistische Analyse der so gewonnenen Daten zeigte: Es sind die Tau-Knäuel, die den Verlauf der Demenz exakt voraussagen, nicht die Aß-Plaques.

Da drängt sich die Frage auf: Haben die Pharmafirmen mit ihrer einseitig auf Aß-Ablagerungen fokussierten Strategie aufs falsche Pferd gesetzt? «Das ist eine gute Frage», sagt der Alzheimerforscher Dietmar Thal von der Universität Ulm. «Als Pharmafirma würde ich mich eher breit aufstellen. Einerseits das Amyloid nicht vergessen, und dieses möglichst früh attackieren, aber andererseits auch auf Tau und andere Ziele setzen.»

Das sieht Irene Knüsel ebenso, Alzheimer-Forscherin bei Roche in Basel. Allen Experten sei mittlerweile klar, dass man eine so komplexe Krankheit wie ­Alzheimer nie mit nur einer Therapie heilen könne. Auch Roche stütze sich deshalb in der Forschung breiter ab. Knüsel selbst erforscht die Rolle von Entzündungen bei der Entstehung von Alzheimer. 

Stressfaktoren können die Tau-Eiweisse verändern

Auch wenn die neue Alzheimer-Gehirnstudie aus den USA ein wenig mehr Klarheit über den Beginn der Demenzerkrankung schafft, bleiben noch viele Fragen offen. So ist die Rolle der Plaques nach wie vor unklar. Möglicherweise verschlimmern sie erst in einem späten Stadium der Krankheit den Verlauf, vielleicht sind sie aber auch nur eine Begleiterscheinung der degenerativen Prozesse und per se kaum schädlich. 

Ebenso ungelöst ist die Frage nach der Ursache: Was löst die Veränderungen im Tau-Eiweiss aus, die letztlich dazu führen, dass es die zellschädigenden Knäuel in den Neuronen bildet? Laut Dietmar Thal weiss man aus Experimenten, dass verschiedene Stressfaktoren das Tau-Protein so verändern können, dass es die Knäuel bildet. Dazu zählen Schädel-Hirn-Traumata, Zellgifte, Sauerstoff­entzug oder auch entzündliche Prozesse, wie sie Knüsel bei Roche erforscht. Was ursächlich zur ­Demenz führe, so die Experten, wisse man letztlich aber immer noch nicht.

Klar ist hingegen, dass Alzheimer schon Jahrzehnte vor den ersten klinischen Symptomen beginnt. So fanden deutsche Forscher um Dietmar Thal und Heiko Braak vor vier Jahren in über 2300 Gehirnen aller Alters­klassen schon sehr früh, im Alter von 20, 30 Jahren, Vorboten der Tau-Knäuel. 

Das heisst auch: Zeigen sich bei einem Patienten die ersten geistigen Defizite, ist es für eine Therapie schon viel zu spät. Man brauche unbedingt bessere Methoden zur Frühdiagnose, sagt Thal, um eine Therapie möglichst früh beginnen zu können. «Wenn man rechtzeitig attackiert, kann man den Ausbruch der Krankheit möglicherweise lange hinauszögern.»

Dass diese Strategie funktionieren könnte, zeigen kürzlich präsentierte Resultate der Schweizer Biotechfirma Biogen Idec. In einer kleinen klinischen Studie (Phase Ib) reduzierte ihr Wirkstoff Aducanumab bei den Alzheimerpatienten nicht nur die Anzahl Aß-Plaques, sondern verlangsamte auch den geistigen Zerfall. Dietmar Thal warnt indes vor allzu starker Euphorie, bevor der Wirkstoff nicht an einer grossen Kohorte getestet wurde: «Das haben wir inzwischen gelernt.»

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 12.4.2015