Reden Mutter und Vater viel mit ihrem Baby, entwickelt sich dessen Gehirn besser, und sein Wortschatz wächst schneller – Ausbildung und soziale Schicht der Eltern spielen eine entscheidende Rolle
Am Anfang war das Wort, sagt die Bibel. Im richtigen Leben müsste es aber heissen: Am Anfang sind ganz viele Wörter. Denn die Sprache spielt bei der Entwicklung eines jeden Neugeborenen eine zentrale Rolle. Je mehr die Eltern mit ihren Babys reden, und zwar schon von Geburt an, desto besser entwickeln sich diese später im Leben. «Sprache», sagt die Entwicklungs- und Sprachpsychologin Patricia Kuhl von der University of Washington in Seattle, «ist die Nahrung für das wachsende Hirn.»
Die ersten drei Jahre sind dabei am wichtigsten. Zu keinem späteren Zeitpunkt ist das Hirn so formbar. Das bedeutet auch: Wer am Anfang des Lebens nicht genügend «Nahrung» in Form von Zuwendung und eben Sprache erhält, der kann das Manko kaum mehr wettmachen; er oder sie hat viele Jahre später unter anderem einen geringeren Wortschatz, mehr Probleme in der Schule und ein höheres Risiko, keinen Job zu finden. «Babys werden nicht smart geboren», sagte die Kinderärztin Dana Suskind von der University of Chicago kürzlich an einer Tagung der New York Academy of Sciences, «sie werden schlau, wenn Eltern mit ihnen reden.»
Keine Chance, später den Sprachrückstand aufzuholen
Dass Kommunizieren mit dem Baby so wichtig ist, zeigten vor knapp 20 Jahren erstmals die US-Psychologen Betty Hart und Todd Risley von der University of Kansas. Sie stellten fest, dass Eltern aus bildungsfernen sozialen Schichten viel weniger mit ihren Kleinkindern sprachen als gut gebildete Eltern. Im Alter von drei Jahren, so das Fazit der Studie, hätten Kinder von Eltern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, 30 Millionen Wörter weniger gehört als Kinder wohlhabender Eltern.
Und diese Lücke hatte direkte Auswirkungen auf den Wortschatz der Kinder: Die Dreijährigen aus armen Familien beherrschten 525 Wörter, die Kinder aus begüterten Verhältnissen dagegen 1116. Als die Kinder neun Jahre alt waren, schrumpfte der Graben kein bisschen. Die benachteiligten Kinder hatten noch immer einen geringeren Wortschatz und konnten schlechter lesen. Andere Studien zeigten zudem, dass verschiedene Hirnstrukturen bei Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern dünner oder schwächer sind als bei gut Gebildeten. Die Weichen fürs Leben werden also in den ersten drei Jahren gestellt.
Wichtig ist die Kommunikation in der Muttersprache
Diese Erkenntnisse – sie wurden seither in diversen Studien bestätigt und dringen nun langsam in die Praxis vor – haben tiefgreifende Konsequenzen für den gesellschaftlichen und politischen Umgang mit der frühkindlichen Förderung. Heute gelten schon flächendeckende Krippenangebote für Drei- oder Vierjährige, wie etwa in Basel, als fortschrittlich. Doch diese Massnahmen, so gut sie gemeint sind, kämen für unzählige Kinder viel zu spät, sagt Andrea Lanfranchi von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HFH) in Zürich. «Mit drei oder vier ist schon vieles gelaufen, gerade was die Sprache betrifft.»
Der Wörtergraben ist kein amerikanisches Phänomen. Auch bei uns hänge es stark von der sozioökonomischen Schicht ab, wie viel die Eltern mit ihrem Kind reden, sagt der Psychologe Alexander Grob von der Universität Basel. «Wenn die Mutter an der Migroskasse arbeitet, der Vater bei der Kehrichtabfuhr, dann kommen sie abends kaputt heim und haben oft nicht mehr die Kraft mit den Kindern zu reden. Dann sind schon wieder mal tausend Worte weniger gefallen in dieser Familie.» Experten schätzen, dass rund 10 Prozent aller Kinder in der Schweiz in Familien mit sozialen Problemen – Arbeitslosigkeit, fehlende Integration – geboren werden.
Wichtig sei primär, dass die Eltern mit ihren Kindern kommunizieren, «und zwar am besten in ihrer Muttersprache», sagt Gabriela Frei vom Verein a:primo, der an 22 Standorten in der Schweiz Programme zur Unterstützung von Kleinkinder-Eltern aus benachteiligten Schichten anbietet (s. Box). Kinder sollen ihren Sprachschatz in der Muttersprache erweitern. «Das erleichtert später auch den Erwerb einer Fremdsprache.»
Deutsch können die fremdsprachig aufgewachsenen Kinder später lernen, im Alter von drei bis vier Jahren. Geeignet dafür sind Krippen, denn Deutsch lernen Kinder am besten im Umgang mit Gleichaltrigen. «Kinder brauchen andere Kinder», sagt die Lernforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich. Ein flächendeckendes Krippenangebot sei daher zwingend. Es sei zudem wichtig, dass die Betreuerinnen in der Krippe Deutsch oder Schweizerdeutsch als Muttersprache haben, sagt Stern, weil Kinder schon früh auf grammatikalische Feinheiten reagieren.
Man könnte meinen, es sei nur natürlich und selbstverständlich, dass Eltern viel mit ihren Kindern und Babys reden. Doch dem sei nicht so, sagt Gabriela Frei. «Wir werden immer wieder gefragt: ‹Warum soll ich mit dem Kind reden? Es versteht mich ja gar nicht›.»
Diese Sichtweise ist trügerisch. Denn kein anderer Lebensabschnitt ist für die Entwicklung des Hirns so wichtig wie die ersten drei Lebensjahre. Ein Neugeborenes kommt zwar mit den etwa 100 Billionen Hirnzellen auf die Welt, die es zeit seines Lebens besitzen wird. Doch diese sind noch wenig vernetzt. Erst mit der Geburt beginnt sich das Gehirn explosionsartig zu verkabeln. Das Baby saugt alles auf, was es in seiner Umgebung wahrnimmt: visuelle Eindrücke, Formen, Farben, Töne, Gerüche, und eben vor allem Sprache.
In den ersten Lebensjahren bilden sich dank diesen Inputs die entscheidenden Verbindungen zwischen den Nervenzellen, sogenannte Synapsen. Im Alter von drei Jahren besitzt das kindliche Gehirn etwa eine Billiarde solcher Synapsen – jede Hirnzelle ist dann im Durchschnitt mit 10 000 anderen Zellen vernetzt. Diese Verbindungen werden im Lauf des Lebens stetig weiter verändert – je nach den (Sinnes-)Erfahrungen, die das Kind macht.
«Kinder lernen von Menschen», nicht vom Fernseher
Schon lange bevor sie sprechen können – die meisten Babys beginnen damit etwa mit dem ersten Geburtstag –, üben die Säuglinge «heimlich» die Sprachabläufe. Dies konnten Patricia Kuhl und ihr Team mit einem eleganten Experiment kürzlich zeigen. Dafür steckten sie die Köpfe der Kleinkinder in einen sogenannten MEG-Scanner, der die Hirnaktivität misst. (MEG steht für Magnetoenzephalografie.) Der Scanner sehe aus wie «ein Haartrockner vom Mars», sagt Kuhl, «aber er ist völlig ungefährlich.» Die Säuglinge können darin ihren Kopf frei bewegen.
Im Scanner hörten die Babys verschiedene englische und spanische Sprachsilben wie «da» oder «ta», während die Forscher aufzeichneten, welche Hirnregionen gerade aktiv waren. Bei jedem Laut reagierten zuerst jeweils die Hörareale, doch Sekundenbruchteile später auch benachbarte motorische Areale, die für das Hervorbringen von Lauten verantwortlich sind. «Die Babys üben so schon mal das Sprechen», sagte Kuhl.
Noch etwas zeigten die Experimente im «Haartrockner»: Am besten reagieren die Säuglinge auf Babysprache, also auf langsame, singende Laute mit gedehnten Vokalen, etwa: «Wie geeehts es Diiiir?» Früher habe man gesagt, man solle mit einem Kind nie in Babysprache reden, sagt die ETH-Forscherin Stern, «heute sieht man das etwas anders. Wichtig ist, dass das Kind sich angesprochen fühlt.»
Dass die Sprache für die frühkindliche Entwicklung absolut zentral ist, bestreitet niemand mehr. Emotionale Zuwendung sei natürlich auch wichtig, und Vernachlässigung sollte man vermeiden, sagt Stern, aber: «Jenseits der Sorge um das körperliche Wohlbefinden gibt es ausser der Sprache eigentlich nichts, was man aktiv tun kann und muss, um die Entwicklung eines Kleinkindes zu fördern.»
Kommt dazu, dass Eltern, die viel mit ihren Kindern reden, diesen automatisch auch Zuwendung geben. Denn es ist nicht nur wichtig, viel mit den Kindern zu kommunizieren, sondern sie miteinzubeziehen und sich in sie einzufühlen. Kinder einfach vor den TV zu setzen, hat keinen Nutzen auf die Sprachentwicklung. «Kinder lernen von Menschen, nicht von Maschinen», sagt Kuhl.
Anders ausgedrückt: Kinder mit Worten vollzustopfen, reicht nicht, es braucht neben der Quantität auch Qualität. Sätze wie «Schau mal, ein Hund», oder «Ja, das ist ein Zug», sind für Kinder viel wertvoller, als der Mutter beim Handygespräch zuzuhören oder eine Kindersendung zu schauen.
Langsam dringen die neuen Erkenntnisse auch dorthin vor, wo sie gebraucht werden: zu den benachteiligten Kindern und Familien. So laufen in den USA diverse Programme zur (sprachlichen) Frühförderung. «Too small to fail», «Thirty Million Word Initiative» oder «Talk with me Baby» heissen die Angebote, die darauf abzielen, Eltern aus tiefen sozialen Schichten aufzuzeigen, wie man mit Babys interagieren kann, etwa mit Vorlesen oder einfach mit Alltagskonversation.
In der Schweiz laufen ähnliche Programme, allerdings nur im kleinen Rahmen und in vereinzelten Kommunen (siehe Kasten). Viele Gemeinden können oder wollen sich die Kosten für die frühkindliche Förderung von 10 000 bis 20 000 Franken pro sozial benachteiligtem Kind nicht leisten.
Dabei machen die Kommunen eine falsche Rechnung. Denn das, was sie später einsparen könnten, etwa durch weniger Sondermassnahmen in der Schule oder mehr Einkommen der früh geförderten Kinder, übersteigt die Investitionen für die frühkindliche Förderung um das Fünf- bis Siebenfache. Dies hat nicht irgendeine Sozialbehörde ausgerechnet, sondern der US-Ökonom James Heckman. Für seine Arbeiten auf diesem Gebiet erhielt er im Jahr 2000 den Wirtschaftsnobelpreis.
Dreimal Frühförderung
Die Erkenntnis, dass eine möglichst frühe (Sprach-)Förderung von Kindern aus sozial benachteiligten Familien langfristig eine gute Investition ist, sickert langsam in die Praxis durch, auch in der Schweiz. Drei Projekte haben zum Ziel, die Kompetenzen der Kinder zu stärken.
schritt:weise Im Rahmen von schritt:weise begleiten Hausbesucherinnen junge Eltern und ihre Kinder im Alter von 1 bis 4 Jahren während 18 Monaten. Die Eltern werden in ihrer Rolle als Erziehende gestärkt und für die kindliche Entwicklung sensibilisiert, u. a. für den Spracherwerb. Das Programm wird vom Verein a:primo koordiniert und kommt an 22 Standorten bei insgesamt 455 Familien zum Einsatz.
Zeppelin Forscher der Hochschule für Heilpädagogik (HfH) testen die Wirksamkeit einer Frühförderung in Form von Hausbesuchen bei 0- bis 3-jährigen Kindern. Ziel der Intervention ist die Stärkung der Elternkompetenzen. Eine erste Analyse zeigt, dass die Massnahme erfolgreich ist: Geförderte Kinder haben als 2-Jährige einen besseren Wortschatz und ein besseres Sprachverständnis.
ZweitSprache Im Kanton Basel Stadt müssen alle 3-jährigen Kinder mit ungenügenden Deutschkenntnissen in Spielgruppen und Tageseinrichtungen spielerisch besser Deutsch lernen. Die Massnahme ist effektiv, wie ein Forscherteam der Uni Basel unter der Leitung des Psychologen Alexander Grob nachgewiesen hat. (nw)