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Schlampereien im Tierlabor

In Tierversuchen werden wissenschaftliche Qualitätskriterien oft nicht eingehalten – das Problem ist erkannt und Besserung in Sicht

© surub - Fotolia

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Von Nik Walter 

«Seit Jahrzehnten können wir Krebs bei Mäusen heilen», sagte einst Richard Klausner, damals Direktor des Nationalen Krebsforschungsinstituts der USA. «Doch beim Menschen klappt es einfach nicht.» 15 Jahre alt ist Klausners Statement schon, aber aktueller denn je. Noch immer kann man mit Tierversuchen nur äusserst schlecht vorhersagen, ob eine experimentelle Behandlung, die bei Mäusen oder Ratten gut wirkt, auch dem Menschen hilft. Im Gegenteil: Die meisten neuen Therapieansätze – und das gilt nicht nur bei Krebs – scheitern in klinischen Versuchen kläglich.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Zum einen entsprechen die jeweiligen «Tiermodelle», also etwa Mäuse, die anfällig auf Krebs sind, oder solche, die an alzheimerähnlichen Symptomen erkranken, nie eins zu eins dem Menschen. Viele Tiermodelle imitieren den Menschen gar so schlecht, dass sie eigentlich untauglich sind, sagt Hanno Würbel, der Leiter der Abteilung Tierschutz an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern. US-Forscher konnten zum Beispiel erst kürzlich zeigen, dass das Immunsystem eines gängigen Mäusestamms auf Verletzungen völlig anders reagiert als dasjenige des Menschen.

Publiziert werden oft nur die positiven Ergebnisse

Viel schwerer wiegt aber ein anderer Vorwurf: Bei Tierversuchen würden wissenschaftliche Qualitätskriterien nur mangelhaft eingehalten, sagt Würbel. «Es ist erschütternd, wie da zum Teil geschludert wird.» So benutzen Forscher in vielen Fällen schlicht zu wenige Tiere, um eine gesicherte Aussage machen zu können; sie «verblinden» auch ihre Versuche oft nicht, was heisst, dass die Versuchsleiter voreingenommen sind, weil sie wissen, welche Tiere die Prüfsubstanz erhalten haben und welche nur ein Scheinmittel; und publiziert werden oft nur die positiven Ergebnisse.

Da stellt sich die Frage: Wie viele Tiere werden weltweit in Labors geopfert ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn? Eine präzise Antwort kann niemand geben, aber: «Es ist sicher ein substanzielles Problem», sagt Würbel. In der Schweiz wurden letztes Jahr gut 600 000 Tiere bei Tierversuchen eingesetzt – 80 Prozent davon waren Mäuse und Ratten.

Als Paradebeispiel für gescheiterte präklinische Tierversuche gilt die Schlaganfallforschung. Von über tausend getesteten Wirkstoffen, die verhindern sollten, dass Nervenzellen absterben, erwiesen sich im Tierversuch rund 370 als vielversprechend; knapp 100 dieser Substanzen wurden darauf in klinischen Versuchen an Patienten getestet, aber nur ein einziger Wirkstoff – tPA – schaffte alle Hürden und ist heute das einzige zugelassene Medikament bei akutem Schlaganfall.

Vor allem Schlaganfallforscher sind sensibilisiert

Was lief falsch? Zum einen wurde bei den Tierversuchen (meist mit Mäusen oder Ratten) kaum berücksichtigt, dass Menschen, die einen Schlaganfall erleiden, oft auch an Bluthochdruck und Diabetes leiden. Zweitens werden die Tiere im Schnitt bereits zehn Minuten nach der induzierten Attacke behandelt – bei Patienten sind die Ärzte froh, wenn diese schon drei bis vier Stunden nach einem Hirnschlag ins Spital kommen. Drittens ist im klinischen Umfeld einzig relevant, wie gut sich die Patienten körperlich und geistig erholen, bei Tierversuchen hingegen wird in der Regel nur geschaut, wie stark sich die vom Infarkt betroffene Region nach einer Behandlung verkleinert.

Die Ernüchterung ist gross. Doch langsam mache sich in der Forschergemeinschaft die Erkenntnis breit, dass es so nicht weitergehen könne, sagt Würbel. Vor allem die Schlaganfallforscher seien sensibilisiert und würden dem Studiendesign mittlerweile mehr Aufmerksamkeit widmen. Das bestätigt Rolf Zeller vom Departement Biomedizin der Universität Basel. «Das Problem ist erkannt», sagt der Grundlagenforscher, der sich gerne und auf verschiedenen Ebenen für Tierversuche einsetzt. «Man könnte uns höchstens vorwerfen, dass wir nicht früher aktiv wurden.»

Die Misere betrifft in erster Linie die präklinische Tierforschung, also Experimente, in denen mögliche Therapien getestet werden. Hier scheinen sehr oft jene Qualitätskriterien nicht zu gelten, die in klinischen Versuchen Standard sind: die zufällige Verteilung der Patienten auf Gruppen, die Verblindung von Arzt und Patient, die Festlegung von eindeutigen Zielen vor Beginn der Studie und vor allem die Wahl einer für statistische Aussagen genügend grossen Gruppe an Patienten.

Gerade beim letzten Punkt hapert es in den Tierlabors. «Ein Grossteil der Studien ist hoffnungslos ‹untermächtig›», sagt Würbel. Die Anzahl verwendeter Tiere sei oftmals viel zu gering, um allfällige Unterschiede statistisch erkennen zu können. Finden die Forscher trotzdem einen publizierbaren Effekt, ist dieser oft zufällig, das heisst, das Ergebnis ist nicht reproduzierbar, oder die Wissenschaftler haben so lange in ihren Daten gestochert, bis sie fast zwangsläufig irgendeinen Zusammenhang gefunden haben.

«Die Resultate sind zu gut, um wahr zu sein»

Beispiel Krebsforschung. Auf der Suche nach neuen Therapieansätzen liess das US-Biotechunternehmen Amgen 53 vielversprechende Studien aus universitären Labors von der eigenen Forschungsabteilung wiederholen. Das Ergebnis war schockierend: Gerade mal 6 der 53 Studien hielten der Amgen-internen Überprüfung stand – obwohl die meisten von ihnen in renommierten Zeitschriften publiziert wurden.

Das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. Denn kaum je versucht ein Forscher, interessante Ergebnisse (eines Konkurrenten oder eigene) experimentell zu bestätigen. Der Grund: Das Reproduzieren bringt keine Meriten, kein prestigeträchtiges Journal veröffentlicht solche Ergebnisse.

Dabei muss man wissen: Das Publizieren ist so etwas wie das Schmiermittel der Wissenschaft. Will ein Forscher Karriere machen, ist er quasi gezwungen, viel und in hochrangigen Journals zu veröffentlichen. «Das System setzt völlig falsche Anreize», sagt Würbel. Das führt dazu, dass vorwiegend «positive» Resultate gedruckt werden, negative Ergebnisse verschwinden dagegen meist in der Schublade.

Wie stark diese sogenannte Publikationsverzerrung (publication bias) ist, konnte ein Team um den Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford University kürzlich aufzeigen. Die Forscher analysierten die Daten von über 4400 Tierstudien zu neurologischen Erkrankungen, wie sie im Juli in «PLOS Biology» schrieben. Gemäss ihren Berechnungen hätten dabei gut 900 Studien positive Resultate vermelden dürfen – es waren aber mehr als 1700 positive Studien. «Die Resultate sind zu gut, um wahr zu sein», sagte Ioannidis zu «Nature News».

«Das System belohnt einen nicht für negative Daten», sagt auch Mathias Jucker vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und vom Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung der Universität Tübingen. Der Neurobiologe nahm vor drei Jahren für einen Beitrag in «Nature Medicine» die Qualität von Mäuseversuchen zu Alzheimer unter die Lupe. Es zeigte sich: Die Anzahl Tiere pro Gruppe in einem Experiment war mit 4 bis 6 im Schnitt oft gering (statistische «Power»); bei kaum einer Studie wurden die Tiere zufällig aufgeteilt (Randomisierung); und nur etwa jede dritte Studie war so angelegt, dass der Experimentator nicht wusste, welches Tier welche Behandlung erhielt (Verblindung).

«Der Gesamtverbrauch an Tieren wird sinken»

Viel geändert an der Situation habe sich seither nicht, sagt Jucker. Dass Studien oft mit (zu) wenigen Tieren durchgeführt werden, liegt laut dem Schweizer Hirnforscher aber nicht am schlampigen Vorgehen der Wissenschaftler, sondern meistens am Geld. «Sollen kleine akademische Gruppen, die etwa an Alzheimer forschen, nun plötzlich nichts mehr machen dürfen?», fragt Jucker. Nein, lautet seine Antwort, das System soll man beibehalten, aber man müsse Studien mit kleinen Mauszahlen schon skeptischer anschauen. Keine Kompromisse dürfe man hingegen bei den Punkten Randomisierung und Verblindung der Experimente eingehen. «Das muss man von jedem Forscher fordern.»

Neben dem Geld könnte noch ein zweiter Grund dazu beitragen, dass oft zu wenig Tiere eingesetzt werden: tierschützerische Motive. Das sei aber die falsche Strategie, glaubt Tierschutz-Professor Würbel. Weil die einzelnen Studien so schwach seien, brauche man heute extrem viele Studien und damit extrem viele Tiere für eine robuste Aussage. Die Strategie müsse daher lauten: weniger Studien durchführen und dafür beim einzelnen Experiment mehr Tiere einsetzen, um so aussagekräftige Resultate zu erhalten. «Der Gesamtverbrauch an Tieren wird sinken, da bin ich überzeugt.»

Würbel selber will seinen Teil zur Verbesserung der Situation beitragen. Im Auftrag des Bundesamts für Veterinärwesen (BVET) wird er in den nächsten drei Jahren zusammen mit seiner Arbeitsgruppe Tierversuchsgesuche analysieren (in anonymisierter Form) und nach der Qualität ihres Studiendesigns bewerten. «Wir wollen so die Schwachstellen aufdecken», sagt Würbel.

Schnell ändern wird sich an der Tierversuchspraxis aber trotz offensichtlicher Mängel nicht viel in naher Zukunft. «Es braucht einen Bewusstseinswandel und womöglich eine neue Generation von Forschern», sagt Matthias Briel, klinischer Epidemiologe und Ex-Tierforscher von der Uni Basel.

Immerhin: Beim Thema Publizieren tut sich einiges. So setzt sich die Basel Declaration, eine internationale Plattform von Tierversuchsforschern, dafür ein, dass die Fachzeitschriften weltweit rigorosere Publikationsstandards durchsetzen, etwa die Arrive-Richtlinien des britischen Pendants zur hiesigen Stiftung 3R (siehe Box unten). Über 300 Journals richten sich bereits danach. Die Basel Declaration fordert zudem laut ihrem Präsidenten Rolf Zeller eine Datenbank, in der alle Resultate aus Tierversuchen, auch negative, abgespeichert werden sollen. Eine andere Initiative (Camarades) fördert systematische Übersichtsarbeiten von Tierversuchen zu verschiedenen Krankheiten.

Solche Initiativen seien dringend nötig, sagt Würbel, aber es brauche viele verschiedene Massnahmen. «Letztlich geht es darum, dass der Erkenntnisgewinn pro Tier möglichst gross und das Leiden möglichst gering wird.»

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 13.10.2013

siehe auch Kommentar

 

Mehr Geld für die Erforschung von Ersatzmethoden

Labortieren wie Mäusen, Ratten oder Kaninchen geht es heute deutlich besser als noch vor einigen Jahren.

So schreibt die Tierschutzverordnung seit 2008 vor, dass Labortiere in Gruppen gehalten werden und dass sie Rückzugs- und Nistmöglichkeiten haben müssen. Zudem werden immer weniger schwer belastende Tierversuche durchgeführt. Letzteres ist auch der Stiftung Forschung 3R zu verdanken, deren Ziel es ist, Tierversuche zu ersetzen, zu vermindern und zu verfeinern. Seit 1987 fördert 3R drei bis vier Forschungsprojekte pro Jahr mit insgesamt rund 650 000 Franken. Finanziert wird die Stiftung zu gleichen Teilen von der Pharmaindustrie und vom Bund. Das sei viel zu wenig, kritisiert Corinna von Kürthy vom Schweizer Tierschutz (STS): «In den Ersatzmethoden liegt erhebliches Potenzial.» Auch der ehemalige wissenschaftliche Leiter von 3R, Peter Maier, fordert eine Verdoppelung der Unterstützung. «Wir mussten in den letzten Jahren 80 bis 90 Prozent der Gesuche ablehnen, darunter auch viele gute.»