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Potente Spritze gegen das Cholesterin

Am Jahreskongress der American Heart Association Mitte November in Chicago wurden neue äusserst wirksame Blutfettsenker vorgestellt. Ob die sogenannten PCSK9-Hemmer auch das Risiko für Herzerkrankungen reduzieren können, müssen sie aber erst noch beweisen. 

Chicago

Mehr als 17 000 Teilnehmer, über 5000 Präsentationen in fünf Tagen – wer am Jahreskongress der American Heart Association (AHA) letzte Woche in Chicago nicht in der Masse untergehen wollte, musste sich etwas einfallen lassen. Am auffälligsten taten dies die Pharma- und Biotechfirmen Sanofi/Regeneron sowie Amgen. Sie waren überall präsent, als Sponsor von Symposien, auf der Konferenz-App, ja sogar auf der Schlüsselkarte fürs Hotelzimmer und auf den «Do not disturb»-Türhängern. 

So viel Aufwand wäre gar nicht nötig gewesen, denn an dem AHA-Kongress drehte sich sowieso fast alles um die neuen Medikamente der beiden Konkurrenten: sogenannte PCSK9-Hemmer. Diese Arzneien können die Blutfettwerte von besonders gefährdeten Patienten massiv senken. Sie könnten in den nächsten Jahren die Therapie von zu hohen Cholesterinwerten neu definieren. 

In Chicago und auch bei Schweizer Experten herrschte denn auch grosse Zuversicht. «PCSK9-Hemmer könnten einen grossen Fortschritt bringen», sagt Arnold von Eckardstein, Präsident der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (Agla) der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie und Direktor des Instituts für Klinische Chemie am Unispital Zürich. «Das Potenzial ist riesig.» 

Trotz aller Euphorie ist derzeit noch Zurückhaltung angesagt, denn die wichtigsten Studien laufen noch. Bislang konnten die verschiedenen Forscherteams erst zeigen, dass die neuen Arzneien enorm potente Cholesterinsenker sind – deutlich besser als die gängigen Statine. Ob sie auch das Risiko für Herzinfarkte, Hirnschläge und Herztod mindern können – die «harte Währung» in der Kardiologie –, müssen diese grossen Patientenstudien noch beweisen. 

Dass die neuen PCSK9-Hemmer scheitern könnten, daran glaubt aber fast niemand. Zu solide sind die Daten, die mehrere Forscherteams in Chicago präsentierten. Die Wirkstoffe Alirocumab (Sanofi/Regeneron) und Evolocumab (Amgen) wurden beide an verschiedenen Patientengruppen getestet und dabei mit Statinen und anderen cholesterinsenkenden Medikamenten verglichen. Durchs Band schnitten die PCSK9-Senker besser ab, sie reduzierten das schädliche LDL-Cholesterin deutlich stärker, zum Teil um bis zu 70 Prozent (alleine) oder um rund 50 Prozent zusätzlich zur Senkung durch die Statine. Mit Statinen kann man die LDL-Werte um maximal 40 bis 50 Prozent senken. 

Erhöhte Cholesterinspiegel sind eine eigentliche Volkskrankheit. Rund 750 000 Schweizerinnen und Schweizer schlucken täglich Statine, um ihre Blutfettwerte zu senken. Denn zu viel LDL-Cholesterin erhöht das Risiko für Arteriosklerose und damit auch jenes für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Idealerweise sollte der LDL-Wert unter 2,5 Millimol pro Liter (mmol/l) liegen, bei besonders gefährdeten Personen unter 1,8 mmol/l. Zum Vergleich: Der Durchschnittsschweizer hat laut von Eckardstein einen Wert von 3,5 mmol/l: «Mindestens die Hälfte der Hochrisikopatienten erreicht auch mit einer aggressiven Statin-Therapie die Zielwerte nicht.» 

Die Nebenwirkungen fallen milder aus als bei den Statinen 

Neue Therapiestrategien sind daher gefragt. Abseits von den PCSK9-Hemmern gab es diesbezüglich in Chicago weitere «good news». In einer vom Hersteller Merck gesponserten Studie namens «IMPROVE-IT» konnte ein internationales Forscherteam zeigen, dass der Wirkstoff Ezetimib in Kombination mit einem Statin die LDL-Werte stärker senken kann als das Statin allein. Und vor allem: Das Kombipräparat reduziert auch das Risiko für Herz­infarkte, Schlaganfälle oder Herztod deutlicher als das Statin allein – ohne zusätzliche Nebenwirkungen. Das Mittel (Inegy) ist in der Schweiz zugelassen. 

«Patienten, die ein hochdosiertes Statin nicht vertragen, können nun auf ein niedriger dosiertes Statin plus Ezetimib wechseln», sagt der Kardiologe Neil Stone von der Northwestern University in Chicago, der die Studie kommentierte. Ezetimib hemmt die Cholesterinaufnahme im Darm, was den Cholesterinspiegel indirekt senkt. 

Die Präsentation dieser Studie wurde in Chicago als Meilenstein gefeiert. Denn sie bestätigt die LDL-Hypothese: je tiefer die LDL-Werte, desto geringer das Herz­risiko, «the lower the better». Es lohne sich, zu hohe Blutfettwerte aggressiv zu bekämpfen, so der Tenor an der Konferenz, zumal bis heute von sehr tiefen Werten keine Komplikationen bekannt seien. 

Vor allem stärkte diese Studie aber die Zuversicht in Bezug auf die PCSK9-Hemmer. Denn diese senken die LDL-Werte so effizient wie bislang keine andere Wirkstoffklasse. Anders als die Statine, welche die körpereigene Cholesterinsynthese hemmen, sorgen PCSK9-Hemmer dafür, dass LDL vermehrt in die Leber aufgenommen und dort abgebaut wird, indem sie den Abbau von LDL-Rezeptoren verhindern. 

Quelle: Nature

Quelle: Nature

Der verbreitete Optimismus bezüglich der PCSK9-Hemmer stützt sich aber nicht nur auf deren potente Effekte auf die LDL-Spiegel, sondern auch darauf, dass die bislang beobachteten Nebenwirkungen milder ausfallen als bei den Statinen. 

In Chicago präsentierten Forscherteams die Resultate von sechs Teilstudien von «Odyssey», einer gross angelegten Untersuchung zur Effizienz und Sicherheit von Alirocumab. Bei keiner Teilstudie traten schwerwiegende Nebenwirkungen auf. Vereinzelt bildeten Testteilnehmer Abwehrstoffe gegen den Wirkstoff, ohne aber dessen Wirksamkeit zu beeinflussen. 

Die Kosten dürften zwölfmal höher sein als bei Statinen 

Nur: Oft treten Probleme mit neuen Medikamenten erst später auf. Es sei daher Zurückhaltung geboten, solange keine Langzeitdaten zur Sicherheit vorliegen und die klinische Wirksamkeit nicht bewiesen sei, sagte die Kardiologin Karol Watson von der University of California, Los Angeles, die eine der Teilstudien kommentierte. 

Läuft alles wie geplant, sollten die Resultate zur klinischen Wirksamkeit von Alirocumab und Evelocumab (und einem dritten Wirkstoff, Bococizumab von Pfizer) bis 2017 vorliegen. Von den neuen Mitteln könnten dann in erster Linie jene Patienten profitieren, die an einer familiären Hypercholesterinämie leiden und daher erblich bedingt einen sehr hohen Cholesterinspiegel aufweisen. Etwa einer von 200 Menschen in der Schweiz ist davon betroffen. Doch auch jene geschätzten 10 bis 25 Prozent der Patienten, die Statine schlecht oder gar nicht vertragen, wären Kandidaten für eine Therapie mit PCSK9-Hemmern. 

Bleiben zwei Fragen: Erstens, werden die Patienten bereit sein, sich alle zwei oder vier Wochen den Wirkstoff selbst zu spritzen? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Zweitens, wie teuer wird eine Behandlung mit PCSK9-Hemmern? Antikörper sind alles andere als Schnäppchen. Möglicherweise kostet eine Behandlung mit Alirocumab oder Evolocumab pro Monat mehr, als eine Statin-Therapie pro Jahr gekostet hat, bevor die Statine als Generika erhältlich waren. Fest steht, dass die Kosten ein grosses Problem sein werden. Darüber sind sich alle einig. 

Dieser Artikel erschien am 23. Nov. 14 in der SonntagsZeitung.