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«Man muss nicht religiös sein, um moralisch zu handeln»

Der Philosoph und Atheist Daniel Dennett über die Evolution des Glaubens und seine Art, Weihnachten zu feiern

Daniel Dennett

Daniel Dennett

 

Interview: Nik Walter

Er ist einer der grossen Denker der Gegenwart, ein Brückenbauer zwischen Geistes- und Naturwissenschaften: der US-amerikanische Philosoph Daniel Dennett. Wir treffen ihn am Tag nach der «Zurich Minds»-Tagung in einem Nobelhotel in Zürich. Der 71-Jährige ist gut gelaunt, aus seinen Augen funkelt jugendlicher Schalk. Dennett gilt zusammen mit dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins und dem Autor Sam Harris als intellektueller Wortführer des neuen Atheismus.

Daniel Dennett, Weihnachten steht vor der Tür. Werden Sie mit Ihrer Familie feiern?

Oh ja. Wir sind da sehr traditionell. Wir haben jedes Jahr ein Fest, bei dem alle im Anzug erscheinen, bei dem wir die besten Weihnachtslieder singen und ein grosses Bankett veranstalten. Wir nehmen das sehr ernst. Ich weiss allerdings nicht, ob überhaupt jemand dabei ist, der an Gott glaubt, aber wir alle lieben die Lieder, den Weihnachtsbaum und die ganze Zeremonie.

Sie sehen ein wenig aus wie die Personifizierung von Gott ...

… oder Nikolaus, oder Karl Marx. Oft werde ich auch gefragt, ob ich absichtlich wie Charles Darwin aussehen würde. Ich trage diesen Bart schon seit ich jung bin. Am Anfang sah ich aus wie Rasputin, recht beängstigend! Meine Kinder kennen mich nicht ohne Bart.

Als Philosoph und Atheist äussern Sie sich oft zu Fragen der Religion. Welche Rolle hat diese in unserer Gesellschaft?

Sie bietet eine wunderbare moralische Infrastruktur. Es geht um Teamwork und Gemeinschaft. Man muss zwar nicht religiös sein, um moralisch zu handeln. Aber für eine Gemeinschaft, die zusammenhält, braucht es eine Art Bindungsenergie. Und das machen Religionen ziemlich gut. Sie tun es allerdings oft, indem sie den Menschen etwas vortäuschen oder sie in die Irre führen. Das wollen wir unterbinden.

Eine gute Kirche bietet also vor allem Gemeinschaft.

Im Gedicht «The Death of the Hired Man» des grossen amerikanischen Dichters Robert Frost gibt es eine Zeile, die ich sehr mag: «Home is the place where, when you have to go there, they have to take you in.» Viele Menschen haben kein Zuhause.

. . . ausser der Kirche.

Die Kirche ist ein ausserordentlich gutes Ersatz-Zuhause für viele. Sie nimmt alle auf und bietet ihnen eine Gemeinschaft, die jeder Mensch braucht. Bis heute gibt es kaum weltliche Institutionen, die diese Aufgaben übernehmen könnten. Viele Aspekte der Religionen sollten wir daher bewahren, allerdings gemässigt.

Zum Beispiel?

Das Nicht-Wertende. Die Toleranz gegenüber allen Menschen, unbesehen ihrer Fähigkeiten, ist eine wunderbare Sache. Die Kirche sorgt so für Lebensunterhalt und Gemeinschaft, aber sie muss kontrolliert werden.

Toleranz gegenüber Anders- oder Nichtgläubigen wird aber in vielen Kirchen nicht grossgeschrieben.

Leider ja. Wenn sich das nicht ändert, sollen sie aussterben. Es gibt aber durchaus tolerante Kirchen, zum Beispiel einige protestantische Glaubensgemeinschaften.

Wie sieht es bei anderen Religionen aus, etwa beim Buddhismus?

Nun, ich hab da den Überblick nicht ganz. Jede grosse Religion hat mit dem Problem von Fanatismus und Intoleranz zu kämpfen, aber jede grosse Religion hat auch eine tolerante Seite. So habe ich zum Beispiel in der arabischen Welt oft eine wunderbare Gastfreundschaft und Toleranz erlebt, die man gerne übersieht.

Die Geschichte zeigt, dass die grossen Religionen immer wieder Kriege anzettelten und für viel Unheil sorgten. Gehört das zur Natur der Religionen?

Es gibt Forschungsarbeiten, die sehr pessimistische Folgerungen haben. Demnach ist Fremdenfeindlichkeit der Preis für Offenheit und Vertrauen innerhalb einer Gruppe. Wir gegen die anderen. Je enger die Gruppe zusammenhält, desto undurchlässiger ist die Membran, welche die Gruppe vom Rest der Welt abschottet.

Auch Schimpansengruppen schotten sich ab . . .

. . . und jede Zelle und jeder lebende Organismus. Eine Zelle muss sich gegen die Aussenwelt schützen. Diese Abgrenzung hat etwas sehr Fundamentales. Wir gegen die anderen, dieses Schema findet man überall.

Seit es die Menschheit gibt, gibt es auch Religionen. Sind sie ein Produkt der Evolution?

Als ich ein Buch über Religion und Evolution schrieb, wurde ich immer wieder gefragt: Wozu ist Religion gut? Ich antwortete jeweils: Alle menschlichen Gruppen leiden an Erkältungen. Wozu ist das gut? Das ist nur gut für den Erreger. Das sind Parasiten, die man kaum los wird.

Religionen als Parasiten?

Ich sehe Religionen als eine Sammlung von kulturell vererbten Eigenschaften, sogenannten Memen, die in der menschlichen Gesellschaft gedeihen. Ich sehe sie daher als Symbionten.

Sie kritisieren die Religionen gerne und oft. Konkret werfen Sie den Kirchen vor, sie würden ihre Lehre einer genauen Überprüfung entziehen.

Die Religionen entwickelten sich über Jahrtausende in einer erkenntnistheoretischen Finsternis, wo sie aufgrund der Ignoranz der meisten Menschen gedeihen konnten. Heute geht das nicht mehr. Wir leben in einem offenen Zeitalter, und die Vorstellung, dass die Religion von einer genauen Überprüfung ausgenommen sein sollte, kann man nicht mehr akzeptieren – wie man auch die NSA oder die Banken nicht von einer Überprüfung ausnehmen kann. Ich will den Schleier der Religionen lüften.

Ihnen wird oft vorgeworfen, Sie seien ein arroganter Apostel der Wissenschaft. Wie reagieren Sie auf solche Anwürfe?

Ich stelle dann meistens die Gegenfrage: Wenn ich über Ölkonzerne sprechen würde oder über Banken, würden Sie mich dann auch als arrogant und beleidigend bezeichnen? Nein, lautet darauf die Antwort.

Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen Religionen und einer Ölfirma!

Ich würde sagen, sie sind gar nicht so verschieden. Beide sind mächtige Institutionen, beide sind nach den Absichten ihrer Leader und Mitglieder strukturiert. Meiner Meinung nach sollten zum Beispiel Versicherungskonzerne intensiv studiert werden, Kirchen aber genau so intensiv.

Werden die Religionen mittelfristig verschwinden?

Ja und nein. Die Dinge ändern sich sehr schnell, viel schneller als manche Leute denken. Ich sage manchmal: Die Dinosaurier sind nicht ausgestorben, sie leben heute in den Bäumen, denn Vögel stammen von den Dinosauriern ab. Ähnlich könnten sich die Kirchen weiterentwickeln, besser angepasst für das 21. Jahrhundert. Wenn sie offen und vernünftig sind und sich nicht hinter irgendwelchem Hokuspokus verstecken, dann sollen sie mehr Macht haben. Denn sie machen vieles gut.

Religionen muss man zugutehalten, dass sie viele Menschen glücklich machen.

Nun, Alkohol macht die Menschen auch glücklich. Und in Massen ist Alkohol auch etwas Gutes. Ich glaube, dass sich die Dinge rasch ändern. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen sehr besorgt und verletzt sein werden, weil sich etwas, was sie sehr geschätzt haben, langsam in Luft auflöst. Traditionen, Kulturen, Gewohnheiten. Das wird sehr schmerzhaft.

Und Sie denken, dass das geschehen wird?

Das geschieht schon! Wir müssen standhaft und behutsam, geduldig und verständnisvoll sein. Wir müssen aber erkennen, dass die Gegenwart die Tradition erodiert und dass viele Menschen das nicht einfach so hinnehmen.

Man hat nicht das Gefühl, dass die Religionen aussterben.

Wenn man die ganze Welt anschaut, dann ist die am schnellsten wachsende Gruppe diejenige der Atheisten. Sie sind vielleicht weltweit schon in der Mehrheit.

Apropos Atheismus: Sie haben einen Essay geschrieben über fünf nicht gläubige Pastoren . . .

. . . letzte Woche publizierten wir dazu gerade ein Buch. Es heisst «Caught in the Pulpit – Leaving Belief Behind» (Gefangen auf der Kanzel – den Glauben hinter sich lassen). Darin veröffentlichen wir 30 weitere Interviews mit nicht gläubigen Pastoren.

Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, nicht gläubige Geistliche zu befragen?

Die ersten fünf zu finden, war wirklich schwierig. Nach der ersten Publikation sind viele andere auf uns zugekommen und wollten uns ihre Geschichte auch erzählen. Wir hatten mehr Anfragen, als wir bearbeiten konnten.

Wie weit verbreitet ist das Phänomen?

Das weiss niemand. Ich glaube, es handelt sich nur um die Spitze eines Eisbergs. Die Betroffenen wissen es auch nicht, weil sie es nicht mit ihren Kollegen besprechen können. Wir können Einzelfälle nicht generalisieren.

Gab es Coming-outs?

Oh ja. Nachdem unsere erste Studie publiziert wurde, entschied sich eine der Interviewten für ein Coming-out. Sie wurde über Nacht von ihrer Gemeinde ausgestossen, verdammt. In einem anderen Fall lief es viel besser.

Läuft das Projekt weiter?

Daraus ist eine neue Organisation entstanden, das Clergy Project. Das ist eine private, vertrauliche, Website für ehemalige oder noch amtierende Geistliche, die sich gegenseitig unterstützen wollen. Nur Geistliche können da mitmachen. Ich aber nicht, und Richard Dawkins, der das Ganze mitinitiiert hat, auch nicht. Das Projekt startete vor knapp zwei Jahren, ohne jegliche Publizität. Heute hat es über 500 Mitglieder, die meisten davon aktive Geistliche.

Und die sind alle nicht gläubig?

Oh ja, das ist eine Bedingung für die Aufnahme. Wir wissen demnach, dass es mindestens 500 nicht gläubige Geistliche gibt.

 

Philosoph, Darwinist, apokalyptischer Reiter

Der US-Philosoph Daniel Dennett gilt als Wortführer des Darwinismus und des Atheismus.

«Der Mensch ist ein natürliches Wesen, das im Prozess der Evolution aus der Tierwelt hervorgegangen ist.» Dies sei «Darwins gefährliche Idee» gewesen, schrieb Dennett 1995 im gleichnamigen Buch, denn sie zwinge den Menschen in ein naturalistisches Weltbild. Auch die Moral sei ein Produkt der Evolution. Ebenso der Geist. Dieser ist laut Dennett das, was das Hirn schafft. Er vertritt die «Philosophie des Geistes».

Der Religionskritiker Dennett, 71, bildete mit dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins, dem Philosoph und Autor Sam Harris und dem verstorbenen Autor Christopher Hitchens die «vier apokalyptischen Reiter des neuen Atheismus». Heute würde Dennett, der an der Tufts University bei Boston lehrt, wohl eher Ingenieur werden. «Ich liebe es, herauszufinden, wie die Dinge funktionieren.»

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 22.12.2013

Das Mekka der Hirnfreaks

Beim «Neuroscience 2005» in Washington waren 35 000 Wissenschaftler und der Dalai Lama mit dabei

Poster Session @SfN2005

Poster Session @SfN2005

Von Nik Walter

Einen ersten Eindruck vom weltweit grössten Forschertreffen bekommt man bereits auf dem Flug nach Washington. Die Schlafforscherin Irene Tobler von der Universität Zürich sitzt auf einem Gangplatz, eine Gruppe von Doktoranden aus Freiburg und Lausanne verstaut lange Kartonröhren mit Postern in den Handgepäckfächern. Und der Berner Pharmakologieprofessor Erwin Sigel vertieft sich schon kurz nach dem Abheben in die Kongressunterlagen. Knapp die Hälfte der Passagiere in der ausgebuchten Boeing 767 hat das gleiche Ziel: die Jahrestagung der Society for Neuroscience, das «Neuroscience 2005» im Washington Convention Center.

Das jährliche Hirnforschertreffen - diese Woche fand es zum 35. Mal statt - ist für viele Neurowissenschaftler der wichtigste Anlass im Jahr. Nirgends sonst können sie ihre neusten Resultate einem grösseren Publikum präsentieren, nirgends sonst finden sie so viele Ideen für neue Experimente, und nirgends sonst ist es für Doktoranden leichter, Kontakte zu anderen Labors zu knüpfen.

Deshalb, und auch weil die Neurowissenschaften derzeit einen gewaltigen Boom erleben, pilgern jedes Jahr mehr Forscher zum Hirn-Mekka. Knapp 35 000 sind es diesmal, ein neuer Rekord, wie Carol Barnes, die Präsidentin der Society, stolz verkündete. Damit ist das fünftägige Meeting die wohl grösste wissenschaftliche Konferenz überhaupt; ähnlich gigantisch sind nur noch die Jahrestreffen der amerikanischen Gesellschaften für Herz- und Krebsforschung mit jeweils knapp 30 000 Teilnehmern.

Vier Stunden müssen für die Ausstellung reichen

Noch eindrücklicher als die Teilnehmerzahl ist die Konferenz selber. Wie in einem riesigen Ameisenhaufen wuseln die Wissenschaftler durch die Gänge des Convention Centers, Treppen rauf und runter. Die einen rennen in den Vortrag über neue Erkenntnisse aus der Gedächtnisforschung, andere suchen den Raum, in dem Kollegen gerade über neue Strategien gegen chronische Schmerzen diskutieren. Wieder andere brauchen eine Pause und dösen in einer Ecke vor sich hin.

Die meisten allerdings zieht es in den Bauch des Kongresszentrums: eine etwa 500 Meter lange und 100 Meter breite Halle, in der Forscher aus aller Welt ihre neusten Erkenntnisse auf Postern an Stellwänden zur Schau stellen. Einen halben Arbeitstag lang haben jeweils rund 1700 von ihnen Zeit, ihre Resultate auszustellen; dann heisst es abräumen und der nächsten Schicht mit 1700 Postern Platz machen. Insgesamt werden dieses Jahr rund 17 000 Arbeiten präsentiert - eine unvorstellbare Menge an wissenschaftlichen Daten.

Die Posterhalle ist der Ort, wo man am besten Leute finden kann - wenn nicht gerade eine Menschentraube den Kontakt verhindert. «Am liebsten gehe ich zu den Postern und spreche mit den Leuten», sagt der Alzheimerforscher Tony Wyss-Coray, den es seit zehn Jahren zum Neuroscience zieht. «Es geht ums Leute Treffen und darum, neue Ideen zu sammeln», sagt der Schweizer, der Professor an der Stanford University ist.

Auf den Posterrundgängen trifft man immer wieder Schweizer. 234 zählt die offizielle Statistik dieses Jahr. Esther Stöckli beispielsweise ist Dauergast an der Tagung. «Das Meeting ist sehr inspirierend», sagt die Entwicklungsbiologin vom Zoologischen Institut der Universität Zürich. Auch für die Neuroanatomin Cordula Nitsch von der Universität Basel ist das Neuroscience wichtig: «Man trifft Hunderte von Kollegen.»

Neben viel intellektueller Stimulation bietet das Hirnforschertreffen auch Unterhaltung. An den geselligen «Socials» kann es bisweilen sogar lustig zugehen, wie die Alzheimerforscher an ihrem Karaoke-Abend bewiesen. «Ich bin von Kopf bis Fuss auf Tau eingestellt», sang eine achtköpfige Gruppe deutscher Alzheimerforscher. «Tau» ist jenes Eiweiss, das in Gehirnen von Alzheimerpatienten zu fadenförmigen Bündeln verklumpt - und dieses Jahr aus der wissenschaftlichen Versenkung auferstanden ist.

Für Novizen ist das Neuroscience besonders eindrücklich. Thomas Bäriswyl beispielsweise, Doktorand im Labor von Esther Stöckli, findet den Anlass «extrem imposant. Ich hätte nie gedacht, dass hier alles so gut funktioniert.»

Der Dalai Lama sprach den US-Forschern aus der Seele

In der Tat: Die Organisation ist bemerkenswert, auch wenn man nicht nur vor den Kaffeebars oft Schlange stehen muss. Shuttlebusse karren die Teilnehmer von frühmorgens bis spätabends von und zu ihren Hotels, ganze Hallenteile sind für die Gepäckaufbewahrung reserviert. Die Zeiten der Vorträge und Veranstaltungen werden fast ausnahmslos eingehalten, Verspätungen gibt es nicht. Hilfreich dabei: Alle Teilnehmer konnten schon im Vorfeld mittels einer Software ihren Weg durch die 17 000 Präsentationen planen.

Einen Programmpunkt hatten gleich 14 000 Teilnehmer dick angestrichen: den Auftritt des Dalai Lamas am Samstag. Der tibetische Geistliche lobte die Wissenschaftler und forderte sie auf, die Welt mit skeptischem Blick zu analysieren: «Wenn die Wissenschaft buddhistische Sichten widerlegt, muss sich der Buddhismus ändern.» Solche Aussagen sind insbesondere für die US-Forscher eine Wohltat, in deren Land die religiöse Rechte dabei ist, die Wissenschaft zu unterwandern.

Dalai Lama, as close as it gets

Dalai Lama, as close as it gets

Neben dem Auftritt des Dalai Lama gab es viele weitere Höhepunkte. So wurden auf Postern und an Pressekonferenzen aufgelistet, was sich alles positiv auf die geistigen Leistungen, die Gesundheit des Gehirns und die Bildung neuer Hirnzellen auswirken kann: Sportliche Betätigung gehört dazu, aber auch intellektuelle Herausforderungen und bestimmte Nahrungsmittel wie Mandeln.

Diese Erkenntnisse liessen sich in Washington direkt umsetzen. Für den Sport sorgten allein schon die 5 bis 10 Kilometer, die man Tag für Tag im gigantischen Convention Center zu Fuss zurücklegte. Um die intellektuellen Reize musste man sich ebenfalls nicht kümmern. Nur mit dem Essen war das so eine Sache. Wirklich gesunde Dinge kamen zu kurz, dafür naschte man hier noch schnell einen Blueberry Muffin (immerhin: Blaubeeren sollen ebenfalls gut sein fürs Hirn) oder dort ein Turkey Sandwich auf lausigem Brot.

Nach fünf Tagen Konferenz flogen die meisten Teilnehmer erschöpft nach Hause. Dort, in den eigenen Labors, gilt es nun, die Datenflut umzusetzen - und sich aufs Neuroscience 2006 in Atlanta vorzubereiten. Denn wer das Meeting einmal erlebt hat, der wird wieder kommen.

Aus der SonntagsZeitung vom 20.11.2005

Trotz Misere: Tierversuche sind unverzichtbar

Mein Kommentar zur Tierversuchs-Geschichte 

Dass in der Wissenschaft nicht immer alle Experimente sauber geplant und durchgeführt werden, ist ein offenes Geheimnis. Wenn aber Versuchstiere im Spiel sind, müsste man diesbezüglich hohe Standards erwarten. Doch dem ist offenbar nicht so. Unzählige Tiere werden in Labors weltweit verschwendet, weil Studien methodisch schlecht oder Resultate nicht reproduzierbar sind, weil negative Resultate gar nicht erst publiziert werden und weil deshalb andere Forscher unnötigerweise Experimente wiederholen, die nichts bringen. Auch wenn vieles im Argen liegt: Den Forschern muss man attestieren, dass sie die Misere erkannt haben und versuchen, die Qualität der Tierversuche zu erhöhen. Das ist dringend nötig: Denn Tierversuche sind für den medizinischen Fortschritt – trotz vieler valabler Alternativmethoden – noch immer unabdingbar.

 

Schlampereien im Tierlabor

In Tierversuchen werden wissenschaftliche Qualitätskriterien oft nicht eingehalten – das Problem ist erkannt und Besserung in Sicht

© surub - Fotolia

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Von Nik Walter 

«Seit Jahrzehnten können wir Krebs bei Mäusen heilen», sagte einst Richard Klausner, damals Direktor des Nationalen Krebsforschungsinstituts der USA. «Doch beim Menschen klappt es einfach nicht.» 15 Jahre alt ist Klausners Statement schon, aber aktueller denn je. Noch immer kann man mit Tierversuchen nur äusserst schlecht vorhersagen, ob eine experimentelle Behandlung, die bei Mäusen oder Ratten gut wirkt, auch dem Menschen hilft. Im Gegenteil: Die meisten neuen Therapieansätze – und das gilt nicht nur bei Krebs – scheitern in klinischen Versuchen kläglich.

Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Zum einen entsprechen die jeweiligen «Tiermodelle», also etwa Mäuse, die anfällig auf Krebs sind, oder solche, die an alzheimerähnlichen Symptomen erkranken, nie eins zu eins dem Menschen. Viele Tiermodelle imitieren den Menschen gar so schlecht, dass sie eigentlich untauglich sind, sagt Hanno Würbel, der Leiter der Abteilung Tierschutz an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern. US-Forscher konnten zum Beispiel erst kürzlich zeigen, dass das Immunsystem eines gängigen Mäusestamms auf Verletzungen völlig anders reagiert als dasjenige des Menschen.

Publiziert werden oft nur die positiven Ergebnisse

Viel schwerer wiegt aber ein anderer Vorwurf: Bei Tierversuchen würden wissenschaftliche Qualitätskriterien nur mangelhaft eingehalten, sagt Würbel. «Es ist erschütternd, wie da zum Teil geschludert wird.» So benutzen Forscher in vielen Fällen schlicht zu wenige Tiere, um eine gesicherte Aussage machen zu können; sie «verblinden» auch ihre Versuche oft nicht, was heisst, dass die Versuchsleiter voreingenommen sind, weil sie wissen, welche Tiere die Prüfsubstanz erhalten haben und welche nur ein Scheinmittel; und publiziert werden oft nur die positiven Ergebnisse.

Da stellt sich die Frage: Wie viele Tiere werden weltweit in Labors geopfert ohne irgendeinen Erkenntnisgewinn? Eine präzise Antwort kann niemand geben, aber: «Es ist sicher ein substanzielles Problem», sagt Würbel. In der Schweiz wurden letztes Jahr gut 600 000 Tiere bei Tierversuchen eingesetzt – 80 Prozent davon waren Mäuse und Ratten.

Als Paradebeispiel für gescheiterte präklinische Tierversuche gilt die Schlaganfallforschung. Von über tausend getesteten Wirkstoffen, die verhindern sollten, dass Nervenzellen absterben, erwiesen sich im Tierversuch rund 370 als vielversprechend; knapp 100 dieser Substanzen wurden darauf in klinischen Versuchen an Patienten getestet, aber nur ein einziger Wirkstoff – tPA – schaffte alle Hürden und ist heute das einzige zugelassene Medikament bei akutem Schlaganfall.

Vor allem Schlaganfallforscher sind sensibilisiert

Was lief falsch? Zum einen wurde bei den Tierversuchen (meist mit Mäusen oder Ratten) kaum berücksichtigt, dass Menschen, die einen Schlaganfall erleiden, oft auch an Bluthochdruck und Diabetes leiden. Zweitens werden die Tiere im Schnitt bereits zehn Minuten nach der induzierten Attacke behandelt – bei Patienten sind die Ärzte froh, wenn diese schon drei bis vier Stunden nach einem Hirnschlag ins Spital kommen. Drittens ist im klinischen Umfeld einzig relevant, wie gut sich die Patienten körperlich und geistig erholen, bei Tierversuchen hingegen wird in der Regel nur geschaut, wie stark sich die vom Infarkt betroffene Region nach einer Behandlung verkleinert.

Die Ernüchterung ist gross. Doch langsam mache sich in der Forschergemeinschaft die Erkenntnis breit, dass es so nicht weitergehen könne, sagt Würbel. Vor allem die Schlaganfallforscher seien sensibilisiert und würden dem Studiendesign mittlerweile mehr Aufmerksamkeit widmen. Das bestätigt Rolf Zeller vom Departement Biomedizin der Universität Basel. «Das Problem ist erkannt», sagt der Grundlagenforscher, der sich gerne und auf verschiedenen Ebenen für Tierversuche einsetzt. «Man könnte uns höchstens vorwerfen, dass wir nicht früher aktiv wurden.»

Die Misere betrifft in erster Linie die präklinische Tierforschung, also Experimente, in denen mögliche Therapien getestet werden. Hier scheinen sehr oft jene Qualitätskriterien nicht zu gelten, die in klinischen Versuchen Standard sind: die zufällige Verteilung der Patienten auf Gruppen, die Verblindung von Arzt und Patient, die Festlegung von eindeutigen Zielen vor Beginn der Studie und vor allem die Wahl einer für statistische Aussagen genügend grossen Gruppe an Patienten.

Gerade beim letzten Punkt hapert es in den Tierlabors. «Ein Grossteil der Studien ist hoffnungslos ‹untermächtig›», sagt Würbel. Die Anzahl verwendeter Tiere sei oftmals viel zu gering, um allfällige Unterschiede statistisch erkennen zu können. Finden die Forscher trotzdem einen publizierbaren Effekt, ist dieser oft zufällig, das heisst, das Ergebnis ist nicht reproduzierbar, oder die Wissenschaftler haben so lange in ihren Daten gestochert, bis sie fast zwangsläufig irgendeinen Zusammenhang gefunden haben.

«Die Resultate sind zu gut, um wahr zu sein»

Beispiel Krebsforschung. Auf der Suche nach neuen Therapieansätzen liess das US-Biotechunternehmen Amgen 53 vielversprechende Studien aus universitären Labors von der eigenen Forschungsabteilung wiederholen. Das Ergebnis war schockierend: Gerade mal 6 der 53 Studien hielten der Amgen-internen Überprüfung stand – obwohl die meisten von ihnen in renommierten Zeitschriften publiziert wurden.

Das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. Denn kaum je versucht ein Forscher, interessante Ergebnisse (eines Konkurrenten oder eigene) experimentell zu bestätigen. Der Grund: Das Reproduzieren bringt keine Meriten, kein prestigeträchtiges Journal veröffentlicht solche Ergebnisse.

Dabei muss man wissen: Das Publizieren ist so etwas wie das Schmiermittel der Wissenschaft. Will ein Forscher Karriere machen, ist er quasi gezwungen, viel und in hochrangigen Journals zu veröffentlichen. «Das System setzt völlig falsche Anreize», sagt Würbel. Das führt dazu, dass vorwiegend «positive» Resultate gedruckt werden, negative Ergebnisse verschwinden dagegen meist in der Schublade.

Wie stark diese sogenannte Publikationsverzerrung (publication bias) ist, konnte ein Team um den Epidemiologen John Ioannidis von der Stanford University kürzlich aufzeigen. Die Forscher analysierten die Daten von über 4400 Tierstudien zu neurologischen Erkrankungen, wie sie im Juli in «PLOS Biology» schrieben. Gemäss ihren Berechnungen hätten dabei gut 900 Studien positive Resultate vermelden dürfen – es waren aber mehr als 1700 positive Studien. «Die Resultate sind zu gut, um wahr zu sein», sagte Ioannidis zu «Nature News».

«Das System belohnt einen nicht für negative Daten», sagt auch Mathias Jucker vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen und vom Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung der Universität Tübingen. Der Neurobiologe nahm vor drei Jahren für einen Beitrag in «Nature Medicine» die Qualität von Mäuseversuchen zu Alzheimer unter die Lupe. Es zeigte sich: Die Anzahl Tiere pro Gruppe in einem Experiment war mit 4 bis 6 im Schnitt oft gering (statistische «Power»); bei kaum einer Studie wurden die Tiere zufällig aufgeteilt (Randomisierung); und nur etwa jede dritte Studie war so angelegt, dass der Experimentator nicht wusste, welches Tier welche Behandlung erhielt (Verblindung).

«Der Gesamtverbrauch an Tieren wird sinken»

Viel geändert an der Situation habe sich seither nicht, sagt Jucker. Dass Studien oft mit (zu) wenigen Tieren durchgeführt werden, liegt laut dem Schweizer Hirnforscher aber nicht am schlampigen Vorgehen der Wissenschaftler, sondern meistens am Geld. «Sollen kleine akademische Gruppen, die etwa an Alzheimer forschen, nun plötzlich nichts mehr machen dürfen?», fragt Jucker. Nein, lautet seine Antwort, das System soll man beibehalten, aber man müsse Studien mit kleinen Mauszahlen schon skeptischer anschauen. Keine Kompromisse dürfe man hingegen bei den Punkten Randomisierung und Verblindung der Experimente eingehen. «Das muss man von jedem Forscher fordern.»

Neben dem Geld könnte noch ein zweiter Grund dazu beitragen, dass oft zu wenig Tiere eingesetzt werden: tierschützerische Motive. Das sei aber die falsche Strategie, glaubt Tierschutz-Professor Würbel. Weil die einzelnen Studien so schwach seien, brauche man heute extrem viele Studien und damit extrem viele Tiere für eine robuste Aussage. Die Strategie müsse daher lauten: weniger Studien durchführen und dafür beim einzelnen Experiment mehr Tiere einsetzen, um so aussagekräftige Resultate zu erhalten. «Der Gesamtverbrauch an Tieren wird sinken, da bin ich überzeugt.»

Würbel selber will seinen Teil zur Verbesserung der Situation beitragen. Im Auftrag des Bundesamts für Veterinärwesen (BVET) wird er in den nächsten drei Jahren zusammen mit seiner Arbeitsgruppe Tierversuchsgesuche analysieren (in anonymisierter Form) und nach der Qualität ihres Studiendesigns bewerten. «Wir wollen so die Schwachstellen aufdecken», sagt Würbel.

Schnell ändern wird sich an der Tierversuchspraxis aber trotz offensichtlicher Mängel nicht viel in naher Zukunft. «Es braucht einen Bewusstseinswandel und womöglich eine neue Generation von Forschern», sagt Matthias Briel, klinischer Epidemiologe und Ex-Tierforscher von der Uni Basel.

Immerhin: Beim Thema Publizieren tut sich einiges. So setzt sich die Basel Declaration, eine internationale Plattform von Tierversuchsforschern, dafür ein, dass die Fachzeitschriften weltweit rigorosere Publikationsstandards durchsetzen, etwa die Arrive-Richtlinien des britischen Pendants zur hiesigen Stiftung 3R (siehe Box unten). Über 300 Journals richten sich bereits danach. Die Basel Declaration fordert zudem laut ihrem Präsidenten Rolf Zeller eine Datenbank, in der alle Resultate aus Tierversuchen, auch negative, abgespeichert werden sollen. Eine andere Initiative (Camarades) fördert systematische Übersichtsarbeiten von Tierversuchen zu verschiedenen Krankheiten.

Solche Initiativen seien dringend nötig, sagt Würbel, aber es brauche viele verschiedene Massnahmen. «Letztlich geht es darum, dass der Erkenntnisgewinn pro Tier möglichst gross und das Leiden möglichst gering wird.»

Publiziert in der SonntagsZeitung vom 13.10.2013

siehe auch Kommentar

 

Mehr Geld für die Erforschung von Ersatzmethoden

Labortieren wie Mäusen, Ratten oder Kaninchen geht es heute deutlich besser als noch vor einigen Jahren.

So schreibt die Tierschutzverordnung seit 2008 vor, dass Labortiere in Gruppen gehalten werden und dass sie Rückzugs- und Nistmöglichkeiten haben müssen. Zudem werden immer weniger schwer belastende Tierversuche durchgeführt. Letzteres ist auch der Stiftung Forschung 3R zu verdanken, deren Ziel es ist, Tierversuche zu ersetzen, zu vermindern und zu verfeinern. Seit 1987 fördert 3R drei bis vier Forschungsprojekte pro Jahr mit insgesamt rund 650 000 Franken. Finanziert wird die Stiftung zu gleichen Teilen von der Pharmaindustrie und vom Bund. Das sei viel zu wenig, kritisiert Corinna von Kürthy vom Schweizer Tierschutz (STS): «In den Ersatzmethoden liegt erhebliches Potenzial.» Auch der ehemalige wissenschaftliche Leiter von 3R, Peter Maier, fordert eine Verdoppelung der Unterstützung. «Wir mussten in den letzten Jahren 80 bis 90 Prozent der Gesuche ablehnen, darunter auch viele gute.»

 

Mit Darmbakterien durch dick und dünn

Menschen mit einer geringen Darmflora-Vielfalt neigen eher zu Übergewicht und entzündlichen Erkrankungen. Eine Umstellung der Ernährung kann die Diversität erhöhen

Foto: iStock

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«Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist.» Dieses Bonmot ist schon 200 Jahre alt, doch noch immer aktuell. Leicht abgewandelt müsste es heute allerdings heissen: «Sage mir, welche Darmflora du hast, und ich sage dir, wie gesund du bist.»

Die Hinweise, dass die 100 Billionen bakteriellen Mitbewohner im Darm einen entscheidenden Einfluss auf unsere Gesundheit ausüben, haben sich in den letzten Jahren stark verdichtet. So ist die Zusammensetzung der Darmflora nicht nur bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen wie Reizdarm, Morbus Crohn oder Colitis gestört, sondern oft auch bei solchen, die an Diabetes, Herzkreislaufproblemen oder starkem Übergewicht leiden. Allerdings ist in den meisten Fällen nicht klar, ob die beeinträchtigte Darmflora am Ursprung der Krankheiten steht oder nur eine Konsequenz davon ist.

Eigentlich ist die Darmflora mehr Freund als Feind des Menschen. Sie hilft, Nahrung zu verdauen, schützt vor krank machenden Keimen, liefert Vitamine und andere Nährstoffe und trainiert das Immunsystem. Daher raten Forscher gerne: «Sei nett zu deinen mikrobiellen Freunden.»

Doch es gibt eben auch eine Kehrseite. Gerade beim Thema Übergewicht belegen mittlerweile unzählige Studien, dass die Zusammensetzung der Darmflora – die Mikrobiota – eine wichtige Rolle spielt. Ob jemand eine Cremeschnitte nur anschauen muss, um Pfunde anzusetzen, oder tellerweise Spaghetti reinschaufeln kann, ohne dabei ein Gramm zuzunehmen, hängt grossteils von den Darmmikroben ab. Denn übergewichtige Menschen sind (in der Regel) gute Futterverwerter und haben daher eine Darmflora, die deutlich mehr Kalorien aus der Nahrung schöpfen kann als jene von «Spränzeln».

Umstellung des Essens kann Mikrobenvielfalt vergrössern

Noch weiss man allerdings wenig über den optimalen Bakterienmix für ein normales Körpergewicht. Zu stark unterscheiden sich die Mikrobiota von Mensch zu Mensch, und zu komplex ist das Zusammenspiel der rund 1000 verschiedenen Mikrobenarten in unserem Darm. Forscher vergleichen die Mikrobiota gerne mit einem noch kaum erforschten Dschungel. Denn auch im Darm leben noch viele unbekannte Arten. Viele von ihnen gedeihen nur dort und können im Labor kaum gezüchtet werden.

Nun bringen gleich drei neue Studien mit Menschen und Mäusen etwas mehr Licht in den Mikrobenurwald. Demnach neigen Menschen mit einer geringen Darmfloravielfalt – dies ist die schlechte Nachricht – eher zu Übergewicht und entzündlichen Erkrankungen als solche mit einer hohen Vielfalt. Die gute Nachricht: Betroffene können durch eine radikale Umstellung ihrer Ernährungsgewohnheiten die Mikrobenvielfalt erhöhen. Und die Darmflora von dünnen Menschen kann Übergewichtige schlank machen – Mäuse zumindest.

Ob Letzteres auch für Menschen gilt, muss sich noch weisen. Die Experimente einer US-amerikanischen Forschergruppe geben diesbezüglich allenfalls Anlass zu leiser Hoffnung.

In einem ersten Schritt übertrug das Team um Jeffrey Gordon von der Washington University in St. Louis, Missouri, die Darmflora von menschlichen Zwillingen, von denen einer normalgewichtig und der andere übergewichtig war, auf keimfrei aufgewachsene Mäuse. (Die Nager hatten also keine eigene Darmflora.) Mäuse, welche die Darmflora von dem übergewichtigen Zwilling erhielten, wurden selber dick. Mäuse mit der transplantierten Darmflora des normalgewichtigen Zwillings hingegen blieben schlank.

Bei schlechter Ernährung verschwand der Transfereffekt

Als die Forscher dann Mäuse mit unterschiedlicher Darmflora in einem Käfig zusammentaten, nahmen auch die Mäuse mit der «übergewichtigen» Flora kaum zu, berichteten die Forscher vergangene Woche im Magazin «Science». Der Grund: «Mäuse tauschen ihre Mikroben leicht untereinander aus», sagt Gordon und spielt dabei auf die Tatsache an, dass Mäuse Kotfresser sind.

Das Fazit: Offenbar können sich gewisse «schlank machende» Bakterien aus einer «normalgewichtigen» Darmflora auch in einem Darm mit einer «Übergewichtsflora» ansiedeln. Mit einer Einschränkung: Die Übertragung der Schlankmacherbakterien funktionierte nur, wenn die Mäuse faserreich und fettarm, also gesund, ernährt wurden. Erhielten sie eine fettreiche, faserarme Nahrung, verschwand der Transfereffekt.

Christophe Lacroix von der ETH Zürich kennt Gordons Studie. «Das sind sehr elegante Experimente», sagt der Lebensmittelingenieur, der selber an der Darmflora forscht. Es müsse sich allerdings noch zeigen, ob die Erkenntnisse auf den Menschen übertragen werden können. Falls ja, könnten daraus durchaus neuartige Therapien für Fettleibigkeit entwickelt werden. Etwa eine Kombination von einer Mikrobiota-basierten Therapie mit einer gesunden Ernährung.

Möglicherweise wird man in Zukunft Fettleibigkeit sogar mit Stuhltransplantationen – also dem Verabreichen einer aufgereinigten Spenderdarmflora – behandeln können (s. Kasten S. 62). «Das ist nicht abwegig», sagt Gerhard Rogler von der Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie am Universitätsspital Zürich (USZ).

Dass man mit einer Ernährungsumstellung durchaus die Darmflora verändern kann, zeigen auch zwei Studien, die letzte Woche in «Nature» veröffentlicht wurden. In der einen Studie untersuchten Forscher die Zusammensetzung der Darmflora von 292 Dänen; in der anderen analysierten sie die Mikrobiota von 49 übergewichtigen Franzosen und setzten diese zudem auf eine sechswöchige Diät.

Die Studien zeigten: Etwa jede vierte Testperson hatte eine geringe Mikrobenvielfalt im Darm, drei Viertel eine hohe Vielfalt. Als Mass für die Diversität bestimmten die Forscher mit einer Methode namens quantitative Metagenomik die Anzahl unterschiedlicher Bakteriengene im Kot. In der dänischen Studie stellte sich heraus, dass jene Probanden mit der geringen Diversität (im Schnitt 400 000 Gene) tendenziell häufiger übergewichtig waren und an Entzündungen litten als Probanden mit einer hohen Vielfalt (im Schnitt 750 000 Gene). Ganz eindeutig ist der Zusammenhang indes nicht: Es gibt auch Fettleibige mit einer hohen und Normalgewichtige mit einer geringen Darmfloradiversität.

Von der eiweissreichen, energiearmen Diät profitierten in der französischen Studie vorab jene Probanden mit einer geringen Mikrobenvielfalt. Bei ihnen nahm die Diversität zu und gewisse Krankheitszeichen tendenziell ab. Allerdings hatte die Diät keinen Einfluss auf die leichten Entzündungen, die mit einer geringen Mikrobenvielfalt einhergehen.

So faszinierend die neuen Erkenntnisse auch sind: Sie sind letztlich noch kein Beweis dafür, dass eine geringe Mikrobiotavielfalt ursächlich zu Übergewicht und Entzündungen führt. Genauso gut könnte es auch umgekehrt sein: Die Mikrobenvielfalt könnte einfach den allgemeinen Gesundheitszustand widerspiegeln.

Trotzdem: Dass man mit der Ernährung die Darmflora anscheinend nachhaltig verändern kann, ist auch für Experten eher überraschend. «Die Darmflora ist an sich sehr stabil», sagt Gerhard Rogler vom USZ. Selbst nach einer Antibiotikakur sei sie nach etwa acht Wochen wieder die Alte, sagt der Spezialist für entzündliche Darmerkrankungen.

Rogler selber konnte kürzlich zeigen, dass nicht nur die Ernährung, sondern auch ein Rauchstopp die Darmflora massiv beeinflussen kann. Für die Studie untersuchte sein Team Stuhlproben von zehn Personen, die mit Rauchen aufgehört hatten, während neun Wochen. In dieser Zeitspanne breiteten sich Bakterien der Stämme Firmicutes und Actinobacteria aus, während Mikroben der Stämme Proteobacteria und Bacteroidetes weniger wurden. Im gleichen Zeitraum legten die Rauchstopper im Schnitt 2,2 Kilo an Gewicht zu – ein weiterer klarer Hinweis dafür, dass es zumindest eine enge Korrelation gibt zwischen der Darmflora und dem Körpergewicht.

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Die Hoffnung liegt im Kot

Wirklich appetitlich ist die Therapie nicht, dafür anscheinend umso wirksamer: Stuhltransplantationen können lebensbedrohliche Darminfektionen heilen – und möglicherweise noch viel mehr.

Vor drei Jahren wagte Gerhard Rogler vom Universitätsspital Zürich erstmals den unorthodoxen Eingriff bei einer Patientin, die wegen einer Infektion mit dem Darmkeim Clostridium difficile an krampfartigen Bauchschmerzen, Durchfall und Fieber litt. Die Ärzte spülten den Darm der Patientin und spritzten danach gereinigten Kot einer Verwandten ein. Die Therapie war erfolgreich. Seither hat Rogler 14 weitere Patienten mit einer C.-difficile-Infektion behandelt – bis auf einen sind alle geheilt.

Derweil testen Forscher weltweit die Stuhltransplantation bei einer Reihe weiterer Darmerkrankungen wie Reizdarm, chronischer Verstopfung, Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn. Holländische Forscher haben die Methode bei Patienten, die am metabolischen Syndrom leiden, erprobt – ebenfalls mit Erfolg. Bei den Patienten hat sich nach der Transplantation mit aufgereinigtem Kot eines dünnen Spenders die Insulinsensitivität erhöht. Das metabolische Syndrom gilt als Vorstufe von Diabetes.

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 8.9.2013

 

 

«Ich mag es, Neues aufzubauen. Status quo ist nicht meine Stärke»

Michael Hengartner über Sponsoringverträge, Studiengebühren und seine Ziele als künftiger Rektor der Uni Zürich

Wurmforscher Hengartner mit Petrischale: «Der Numerus clausus ist ein Rohrkrepierer.»    Foto: Sabina Bobst

Wurmforscher Hengartner mit Petrischale: «Der Numerus clausus ist ein Rohrkrepierer.»    Foto: Sabina Bobst

Interview: Nik Walter

Ab Sommer 2014 wird der Entwicklungsbiologe Michael Hengartner als Rektor die Geschicke der Uni Zürich, der grössten Uni der Schweiz leiten. Der kanadisch-schweizerische Doppelbürger kann genauso gut anpacken wie zuhören. Vielleicht deshalb gab es im Vorfeld der Wahl kaum Kritik an seiner Person.

Bei der Wahl unterstützten Sie die Studierenden genauso wie die Professoren und die Forschenden. Wie schaffen Sie es, bei allen so gut dazustehen?

Es wäre gefährlich, zu denken, man könne es immer allen recht machen. Das ist unmöglich. Möglicherweise habe ich die Leute überzeugt, weil ich mich voll für die Uni einsetze, ihnen zuhöre und sie ins Boot hole und weil ich mir Mühe gebe, immer zu erklären, warum man etwas macht.

Welche Prioritäten möchten Sie in dem neuen Amt setzen?

Drei Stichworte sind mir wichtig: Personen, Raum und Diversität. Personen, weil die Uni mit den Menschen, die hier arbeiten, steht und fällt. Es ist mir sehr wichtig, dass wir die besten Rahmenbedingungen offerieren und so auch die besten Köpfe aus der ganzen Welt rekrutieren können. Dann brauchen wir unbedingt mehr Raum, und zwar im wörtlichen und übertragenen Sinn. Die Uni ist massiv gewachsen in den letzten zehn Jahren, wir brauchen mehr Fläche für die Studierenden und die Forschung. Zudem müssen wir die Vielfalt der Uni bewahren.

Man hört, Sie seien einer, der gerne sagt, wo es langgehe. Mögen Sie Macht?

Macht ist das falsche Wort. Was ich mag, ist Neues aufzubauen.

Als Leader?

Ich muss nicht unbedingt Chef sein, ich kann auch sehr gut in einem Team arbeiten. Ich fühle mich wohl, wenn man Neues ausprobiert. Status quo ist nicht meine Stärke.

Wo sehen Sie an der Uni Zürich die grössten Baustellen?

Ich habe jetzt ein Jahr Zeit, mich in die Dossiers einzuarbeiten. Ein Thema ist sicher die Zusammenarbeit mit den Unispitälern. Die Spitzenmedizin ist ein gesellschaftlich wichtiges Thema, in das sich auch der Rektor einbringen muss. Wir müssen mit der Bildungs- und der Gesundheitsdirektion des Kantons gut zusammenarbeiten, um den Gesundheitsstandort Zürich zu stärken.

Das Thema «Deutsche an der Uni» sorgt immer wieder für Schlagzeilen, zuletzt bei der Besetzung eines Publizistik-Lehrstuhls. Verstehen Sie die Aufregung?

Das Thema beschäftigt die Bevölkerung. Daher müssen wir es erklären. Die Uni Zürich versteht sich als Forschungsuniversität, und wir wollen in bestimmten Gebieten Weltspitze sein. Wir brauchen also die besten Forscher in Zürich. Das heisst aber auch, dass die besten Kandidaten oft nicht Schweizer sind. Wir rekrutieren nicht nur Deutsche, wir haben auch viele Kanadier, Amerikaner, Franzosen, Italiener, Holländer, Engländer, Japaner, Inder . . .

Es hat Ihrer Meinung nach also nicht zu viele Deutsche?

Ich finde es beleidigend, dass man Leute, die sich für die Uni und die Studierenden einsetzen, nur wegen der Farbe des Passes verunglimpft. Da werde ich mich klar dagegen einsetzen: So nicht!

Viel zu reden gibt das Lehrstuhlsponsoring, insbesondere das Engagement der UBS, die mit bis zu 100 Millionen Franken fünf Lehrstühle am Institut für Volkswirtschaftslehre sponsern will. Eine Gruppe renommierter Forscher wehrt sich dagegen. Sie befürchten, dass die Forschung beeinflusst wird. Teilen Sie die Bedenken?

Grundsätzlich finde ich Sponsoring eine super Sache. Aber gewisse Grundregeln müssen unbedingt eingehalten werden.

Die da wären?

Erstens: Die Freiheit in Forschung und Lehre darf nicht angetastet werden. Zweitens: Das Sponsoring muss kompatibel sein mit den strategischen Zielen der Universität. Drittens: Die Reputation der Uni muss gestärkt werden.

Wie macht man das?

Man muss schauen, von wem das Geld kommt und wofür es eingesetzt wird.

Also Transparenz schaffen.

Das ist Punkt vier. Es braucht volle Transparenz.

Die Sponsoringverträge müssen einsehbar sein?

Ja, diese Verträge müssen so aufgesetzt sein, dass man sie offenlegen kann. Sobald man etwas nicht öffentlich zeigt, kommen Fragen auf. Damit erweisen wir uns einen Bärendienst.

Die Geheimhaltung beim UBS-Vertrag war demnach falsch?

Ich weiss nicht, ob ich damals weiser gehandelt hätte. Aber jetzt, wo wir das Feedback kennen, würde ich Verträge so aufsetzen, dass man sie einsehen kann.

Zum konkreten Fall: Glauben Sie wirklich, dass an dem Institut künftig bankenkritische Forschung noch möglich ist?

Da muss ich eine kleine Korrektur machen. Es gibt kein neues Institut. Alle fünf Lehrstühle werden in das bestehende Institut für Volkswirtschaftslehre integriert, sie unterscheiden sich kein Jota von den anderen Lehrstühlen. Die Uni besetzt diese Lehrstühle, sie geniessen alle volle Freiheit in Forschung und Lehre. Bankenkritische Forschung ist dabei durchaus möglich und wird meines Wissens auch bereits durchgeführt.

Werden Sie versuchen, mit anderen Firmen ähnliche Verträge abzuschliessen?

Ich würde sehr gerne mehr Firmen als Sponsoren gewinnen. Wir brauchen mehr Drittmittel, und zwar öffentliche wie auch private. Wir müssen unsere Finanzierung diversifizieren.

Heute beträgt der Anteil der Drittmittel am Unibudget etwa 18 Prozent. Wie viel soll es in Zukunft sein?

Wir wären stolz, wenn wir den Anteil auf 20 bis 25 Prozent erhöhen könnten. Meine langfristige Vision ist, dass wir über unsere eigene Stiftung, die UZH-Foundation, Kapital erhalten in Form von Schenkungen, über das wir selber verfügen können.

Sind die Maturanden heute gut auf das Studium vorbereitet?

Über das Niveau der Maturanden beklagen wir uns natürlich ständig. Die Mathekenntnisse seien schlecht, das Deutsch schlimm. Aber ich bin überzeugt, dass man sich schon vor 20 Jahren über die Maturanden beklagt hat. Jeder Generation geht es da gleich.

Ein ständiges Diskussionsthema ist die Maturitätsquote. Müsste man sie nicht erhöhen?

Ich fände es zum Beispiel gut, wenn wir mehr Physiker hätten, aber es ist nicht gesagt, dass es mit mehr Maturanden auch mehr Physiker geben würde. Zurzeit ist der Markt ziemlich ausgewogen. Fast jeder Absolvent der Uni findet eine Stelle, gleichzeitig suchen auch nicht massenhaft Jugendliche eine Lehrstelle.

Einspruch: Wir importieren viele Akademiker. Vor allem in der Medizin sind wir auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen.

Ich finde das auch nicht in Ordnung. Die Uni Zürich wird ab kommendem Herbst die Zahl der Studienplätze von 240 auf 300 erhöhen. Wir werden also 60 Mediziner mehr ausbilden.

Es bräuchte aber noch mehr.

Wir haben gemacht, was wir kurzfristig machen konnten. Das Medizinstudium ist praktisch angelegt, und mit der bestehenden Infrastruktur kommen wir einfach an Grenzen.

Was lief falsch?

Der Numerus clausus ist ein Rohrkrepierer. Man hatte Angst, wir würden zu viele Ärzte ausbilden, nun merken wird, dass es zu wenige sind.

Christian Amsler, der Präsident der Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK), fordert dafür einen Numerus clausus bei den Sozial- und Geisteswissenschaften. Wo es keine Jobs gebe, solle man nicht zu viele ausbilden. Wie sehen Sie das?

Ich bin dagegen. Die Studienabgänger finden Jobs, wir haben keine arbeitslosen Akademiker. Zudem sollen die Studierenden das studieren können, was sie wirklich begeistert.

Als Mittel gegen zu viele Studierende wird auch über eine Erhöhung der Studiengebühren diskutiert. Wie sehen Sie das?

Ich glaube nicht, dass eine finanzielle Barriere die richtige Selektionsmethode ist. Auf Bachelor- und Masterstufe finde ich es sehr wichtig, dass alle Schweizer Maturanden die Möglichkeit haben, an einer Uni zu studieren.

Sollte man die Studiengebühren sogar abschaffen?

Ich könnte mir ein System mit null Studiengebühren sehr gut vorstellen. In einzelnen deutschen Bundesländern funktioniert das auch. Allerdings würde ich am jetzigen System nicht schrauben. Jedes Mal, wenn man mit den Gebühren hoch- oder runtergehen will, wehren sich Teile der Bevölkerung massiv.

Sie sind stark engagiert auf verschiedenen Ebenen der Unipolitik und der Forschung. Sie haben aber auch sechs Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren. Wie schaffen Sie das, alles unter einen Hut zu bringen?

Gutes Zeitmanagement und vor allem viel Unterstützung von meiner Frau. Ich wohne sehr nahe bei der Uni und kann über Mittag nach Hause zum Essen. Ich kann auch zu Hause arbeiten. Ich habe einen fliessenden Übergang zwischen privatem Leben und Berufsleben. Es gibt Leute, die eine klare Grenze brauchen, ich brauche das nicht. Ich kann dafür auch während der Arbeitszeit einmal etwas Privates unternehmen.

Die Kinder haben also etwas von ihrem Papi?

Da müssten Sie die Kinder selber fragen. Aus meiner Sicht ja. Normalerweise bringe ich die Kinder in die Schule. Ich bin auch für die Hausaufgaben zuständig. Das heisst, ich bin abends meistens rechtzeitig zu Hause und unterstütze sie. Zudem gehört ein Tag am Wochenende nur der Familie.

Sie üben noch viele andere Tätigkeiten aus, etwa als Verwaltungsrat der Firma EvalueScience. Führen Sie diese Tätigkeiten als Rektor weiter?

Ich plane, alles aufzugeben ausser einer Handvoll Stiftungen, bei denen der Stiftungszweck kompatibel ist mit dem Job als Rektor.

Und das Labor?

Ja, auch das Labor gebe ich auf. Zwar gibt es ein paar Kollegen in den USA, die beides nebeneinander machten. Ich habe es persönlich anders erlebt. Als ich in Cold Spring Harbor Gruppenleiter war, war James Watson, der Mitentdecker der DNA-Struktur, Präsident dieser Forschungsinstitution. Am Tag, als er diese Leitung übernahm, hat er seine Forschungsgruppe an den Nagel gehängt und allen gesagt: «Von jetzt an ist deine Forschungsgruppe auch meine Forschungsgruppe.» Das hat mir Eindruck gemacht; ich möchte es genauso machen.

 

Wurmforscher, Forschungspolitiker, Familienmensch, Hobbygärtner

«Ich bin von Natur aus sehr neugierig», sagt Michael O. Hengartner, der designierte Rektor der Universität Zürich. Daher sei die Forschung für ihn so interessant gewesen. Doch seine Neugier geht darüber hinaus. Er könne sich auch sehr schnell begeistern für Projekte von Kollegen. Wie als Beweis lief er beim Fotoshooting auf dem Campus Irchel der UZH schnurstracks auf zwei Forscher zu, die gerade die WLAN-Verbindung eines neuen Messgerätes testeten, und liess sich erklären, was sie genau machten.

Obwohl er selber mit Leidenschaft und erfolgreich geforscht hat – mithilfe des Fadenwurms Caenorhabditis elegans (siehe Foto) ist er der Frage nachgegangen, warum Zellen gezielt Selbstmord begehen können –, zögerte Hengartner keine Sekunde, als er vor rund 20 Jahren eine eigene Forschungsgruppe übernehmen konnte. Das Plus an dem Job als Gruppenleiter sei, sagt er, dass man dabei mehr Forschung bewirken könne, als wenn man selber forsche. Die gleichen Argumente galten, als er vor vier Jahren Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät wurde.

Die wissenschaftliche Laufbahn wurde Hengartner quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater war Mathematikprofessor an der Université Laval in Québec, wo er mit vier Geschwistern aufwuchs. Seine universitäre Ausbildung absolvierte der heute 47-Jährige in Kanada und in den USA. Er promovierte beim späteren Nobelpreisträger Robert Horvitz am renommierten MIT.

Der künftige Rektor ist mit der Biologin Denise Hengartner verheiratet und hat sechs Kinder im Alter von 4 bis 18 Jahren. Daneben pflegt Hengartner noch ein Hobby: einen Obst- und Beerengarten, an dem er «enorm viel Freude hat». «Darin wächst alles, was bei uns gedeiht: Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren, Jostabeeren, Stachelbeeren, Maibeeren, Blaubeeren, Trauben, Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Kirschen, Kiwis, Feigen, Mandeln, Indianerbananen, Gojibeeren, Chinabeeren und japanische Himbeeren. Ein Riesenplausch im Sommer!»

Erschienen in der Sonntagszeitung vom 30.6.2013

Die wilden Otter von Bern

 Seit 2005 leben an der Aare bis zu fünf «Wassermarder» in freier Wildbahn

 © Gabi Trachsel, Pro Lutra

 © Gabi Trachsel, Pro Lutra

Von Nik Walter

Während die Stiftung Pro Lutra in Österreich wissenschaftlich untersuchen lässt, ob der Fischotter auch in der Schweiz Fuss fassen könnte (s. Hauptartikel), läuft hierzulande quasi inkognito seit sieben Jahren ein «illegales» Feldexperiment. Offiziell ist der Fischotter bei uns zwar ausgestorben, dennoch lebten seit dem Sommer 2005 teilweise bis zu fünf Otter an der Aare zwischen Bern und Münsingen in freier Wildbahn – heute wohl nur noch einer.

Das kam so: Bei einem Aare-Hochwasser büxten Lumpi, ein Männchen, und Orava, ein Weibchen, aus dem Tierpark Dählhölzli aus. Orava war damals offensichtlich trächtig. Im Herbst 2005 oder im Frühling 2006 kamen irgendwo an der Aare dann drei Jungtiere zur Welt – es waren wohl die ersten in freier Wildbahn geborenen Fischotter in der Schweiz seit über 30 Jahren. Vermutlich war Lumpi der Vater; allerdings wurde Orava kurz vor dem Ausbruch von einem beigezogenen Otterrüden aus dem Zoo Zürich begattet. Fakt war: Plötzlich lebten fünf Otter draussen.

Ein Jahr später, 2007, wendete sich das Schicksal. Der eher zahme Lumpi wurde wieder eingefangen. Auch eines der Jungtiere, ein Männchen, ging verletzt in eine Falle des Tierparks. Der Park musste die Otter wieder einfangen, denn rechtlich galten sie – zumindest Lumpi und Orava – als «unerlaubt freigesetzt», auch wenn der Fischotter eigentlich auf der Roten Liste steht. Ob dieser Passus auch für die in freier Wildbahn geborenen Otter zutrifft, ist zumindest fraglich. Denn «freigesetzt» wurden sie ja nicht.

Zuletzt wurde der Fischotter Anfang August 2012 gesichtet

Im gleichen Jahr tauchte auch Orava wieder auf, allerdings mit so schweren Verletzungen, dass sie eingeschläfert werden musste, wie Dählhölzli-Direktor Bernd Schildger erklärt. Woher die Verletzungen stammten, ist unklar. Von einer Falle? Oder griff ein Hund Orava an? Tatsache ist, dass das Weibchen zum Zeitpunkt des Todes laktierte, also vor kurzem wieder Junge gehabt hatte. Diesmal wäre sicher Lumpi der Vater gewesen. Mutterlos starben die nie entdeckten Otterbabys.

Aare-Grafik Fischotter.jpg

Blieben noch zwei. Sie hinterliessen in den kommenden Jahren immer wieder (Kot-)Spuren an der Aare zwischen Bern und Münsingen, besonders viele offenbar in unmittelbarer Nähe des Flughafens Bern-Belp, wie Jean-Marc Weber von der Raubtierforschungsstelle Kora 2008 berichtete (siehe Karte). Die Otter fühlten sich dabei wohl weniger von den viele Flugzeugen angezogen als von der dortigen Fischzucht Giessenhof, die sie mehrmals heimsuchten.

Heute ist höchstwahrscheinlich nur noch ein «Wassermarder» an dem Flussabschnitt unterwegs. Zuletzt wurde er Anfang August gesichtet. Der zweite könnte sich in eine andere Richtung aufgemacht haben. 2008 fand Jean-Marc Weber Spuren am Wohlensee westlich von Bern, rund 30 Kilometer vom ursprünglichen Lebensraum entfernt.

Ganz vorbei ist das unbeabsichtigte Experiment also noch nicht. Die Chance, dass sich eine nachhaltige Population in der Region etabliert, ist allerdings gering. Und dies, obwohl das Experiment eigentlich klar zeigt: Ja, Fischotter finden in der Schweiz durchaus passende Lebensbedingungen. So scheint zumindest das Nahrungsangebot zu stimmen, wie eine Kotanalyse von Jean-Marc Weber von 2011 belegt: Demnach ernährten sich der oder die Aare-Otter zu über 90 Prozent von Fisch, am liebsten von Forellen. Amphibien, Reptilien und Gliederfüssler machten zusammen weniger als 10 Prozent der Nahrung aus.

Das Feldexperiment zeigt indes auch Probleme einer möglichen Wiederansiedlung auf. Zum einen die vielen Hunde im Naherholungsgebiet: Immer wieder stellten sie den Ottern nach und erschwerten ihnen das Leben. Zum anderen existiert ein offensichtliches Konfliktpotenzial mit Fischzüchtern; diese müssen lernen, wie man sich gegen Otterbesuche schützen kann (einfache Massnahmen reichen, s. Haupttext).

Trotzdem: Dass die Otter jetzt schon sieben Jahre draussen leben, sei durchaus positiv zu werten, sagt Tierpark-Direktor Schildger: «Das ist ein Kompliment an die Schweiz.»

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 7.10.12

 

Sie sind schon (fast) da

Eine Doktorandin untersucht im Rahmen eines Projektes das Leben der Fischotter in voralpinen Tälern

 © foerderverein-wildpark.de

 © foerderverein-wildpark.de

Von Nik Walter

Am nächsten kommen wir an diesem Tag Gessa. Das Fischotterweibchen ist knapp zehn Meter von uns entfernt, auf der anderen Seite der Mürz, einem mittelgrossen Fluss in der Steiermark (A). Gessa ruht dort unter Ästen versteckt, vermutlich mit einem Jungtier, in einer von hier aus unsichtbaren Höhle direkt am Flussufer. Die Biologin Irene Weinberger hat das Tagesversteck von Gessa eben mit einer Richtantenne geortet. «Das ist neu», sagt die Doktorandin vom Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich. «Hier schlief Gessa noch nie.»

Gessa gehört zu einer mittlerweile ansehnlichen Population von über einem Dutzend Fischottern in den Bezirken Bruck und Mürzzuschlag im Norden der Steiermark, einem Gebiet von etwa der Grösse des Kantons St. Gallen. Neun der äusserst scheuen Tiere tragen wie Gessa einen Sender in der Bauchhöhle, sodass Irene Weinberger und ihre meist weiblichen Assistenten die Wege und Aufenthaltsorte der eleganten Fischjäger jederzeit lokalisieren können, auch wenn sie die Tiere – wie wir heute auf unserer Tour – nicht oder nur selten zu Gesicht bekommen.

Otter wurden am Genfersee und in Graubünden gesichtet

Weinberger erforscht zwar «österreichische» Fischotter, doch eigentlich geht es dabei um die Schweiz. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit, dem Projekt Lutra alpina, will sie herausfinden, welche Lebensräume die Wassermarder beanspruchen, wie ihre Jagdgründe beschaffen sind, welche Fische sie am liebsten jagen, wo sie schlafen und ruhen, wie sie sich bewegen. All das im Hinblick darauf, dass in absehbarer Zeit Fischotter höchstwahrscheinlich auch wieder in die Schweiz zurückkehren werden. Und da stellt sich natürlich die zentrale Frage: Finden sie bei uns die für sie richtigen Lebensbedingungen?

Früher war der Fischotter Lutra lutra in der Schweiz heimisch, doch Ende des 19. Jahrhunderts forderte ein Bundesgesetz seine Ausrottung. Er schade der Fischerei, so die Begründung. Erst als sein Bestand von ursprünglich über 1000 Tieren auf etwa 100 geschrumpft war, wurde der Otter 1952 unter Schutz gestellt. Das war offensichtlich zu spät. 1989 verschwand das letzte Tier. Bis heute ist unklar, was zum Aussterben führte. Am plausibelsten scheint die Nahrungshypothese: Einbrechende Fischbestände entzogen ihm die Lebensgrundlage.

Doch nun steht der Fischotter wieder vor der Tür – eine Rückkehr scheint durchaus möglich. Letzten Winter erkundete ein Tier aus Hochsavoyen (südlich des Genfersees) schon zweimal Walliser Terrain, und vor etwa zwei Jahren ging ein Fischotter am Rhein bei Reichenau GR in eine Fotofalle. Der Bündner Otter wurde allerdings vorher und nachher nie mehr gesichtet. Und dann gibt es noch die Geschichte der zwei Fischotter, die beim Aarehochwasser 2005 aus dem Tierpark Dählhölzli ausbüxten, in der Freiheit drei Junge zeugten, aber bis auf ein Jungtier alle wieder eingefangen wurden oder verendeten (siehe Artikel S. 60).

Fischotter sind Einzelgänger, jedes Individuum beansprucht ein ziemlich grosses Territorium: ein Männchen etwa 30 Kilometer Flusslauf, ein Weibchen ca. 20 Kilometer, wie Weinbergers Untersuchungen zeigen. In der Steiermark leben in jedem Seitental der Mürz (dem Haupttal) eines oder höchstens zwei Tiere. Das hat zur Folge, dass die Männchen teils beachtliche Wege unter die Füsse nehmen müssen, wenn es sie nach einem Weibchen gelüstet.

Für ein Weibchen überwindet Otter Dan einen Berg

Dan zum Beispiel, das Männchen aus dem Thörlbach, scheut für Weibchen keinen noch so beschwerlichen Weg. Das Thörltal hat, wie die ganze Gegend, einen voralpinen Charakter, mit steilen bewaldeten Flanken. «Es erinnert mich an das Diemtigtal im Berner Oberland», sagt Irene Weinberger. Zweimal schon hat sie Dan auf einer nächtlichen Exkursion über die steilen Abhänge ins benachbarte Lamigtal, wo Alena wohnt, verfolgt. 400 Meter den Berg hoch kletterte Dan, auf der anderen Seite wieder hinunter, dann 20 Kilometer dem Fluss entlang bis zu Alena und am selben Tag alles wieder zurück. «Wir waren sehr erstaunt über diese Leistung», sagt Weinberger.

Sowieso, die Fischotter überraschen Weinberger immer wieder, auch nach zwei Jahren Feldarbeit. Auch heute. Normalerweise ruhen die nachtaktiven Raubtiere tagsüber, doch um 9:30 Uhr an diesem Morgen ist Dan noch munter. Wir verfolgen ihn eine Weile im Auto anhand der Sendersignale und orten ihn in einem unzugänglichen Flussabschnitt. Später an diesem Tag wiederholt sich das Schauspiel mit einem anderen Männchen, Ivo aus dem Mürztal. Er ist ebenfalls purlimunter, vermutlich am Jagen. Ihn sehen wir aber genauso wenig wie Fee, die mit ihrem Jungtier an einem idyllischen See campiert und sich nur durch ihren Sender verrät.

Die Fischotter in der Steiermark sind von Osten her zugewandert, vermutlich aus Tschechien. Offensichtlich finden sie hier Lebensbedingungen vor, die ihnen behagen. Selbst im stark besiedelten lang gezogenen Mürztal mit einiger Industrie und viel Gewerbe fühlen sie sich so wohl, dass hier mindestens drei Tiere leben: Hans, Gessa und Ivo.

Ein Hauptgrund für ihr Wohlergehen ist das offensichtlich gute Nahrungsangebot. Denn die bis zu 1,40 Meter grossen Otter verspeisen jeden Tag etwa ein Kilo Fisch – das entspricht rund einem Zehntel ihres Körpergewichts. Beim Nahrungsangebot spielen die verschiedenen Fischzuchten und -teiche, die wir auf unserer Tour zu Gesicht bekommen, vermutlich keine unwesentliche Rolle. Die Flüsse und Bäche werden jedenfalls für die Fischer regelmässig mit Forellen und anderen Fischen besatzt. Davon profitieren auch die Otter.

Haben Fischotter auch in der Schweiz eine Zukunft?

Der «grösste natürliche Feind» der Otter ist der Fischzüchter. Immer wieder kommt es vor, dass ein Tier nächtens eine Zucht oder einen Teich besucht und teils wüste Spuren hinterlässt. Um die erzürnten Besitzer zu beruhigen, muss Weinberger dann ihr ganzes diplomatisches Geschick einsetzen. Sie zeigt den Züchtern auf, dass sie die Anlagen mit kleinem Aufwand – drei Elektrodrähte nahe über dem Boden reichen – effektiv schützen können. Mit dieser Strategie hatte sie schon einigen Erfolg, wie wir uns bei einer Fischzucht im Stübmingtal überzeugen können: Seit der Zaun steht, gab es dort keine Otterbesuche mehr.

Seit zwei Jahren spürt Weinberger den Mürztal-Ottern nach. In dieser Zeit spulte sie Tausende von Kilometern mit dem PW ab und sammelte unzählige Kothäufchen und GPS-Daten. Nun neigt sich das Projekt Lutra alpina – es wird von der Stiftung Pro Lutra mit Geldern des Zürcher Tierschutzes, des Zoos Zürich und anderer Donatoren finanziert – dem Ende zu. Dieser Herbst ist der letzte für Weinberger im Feld. Dann geht es zurück nach Zürich, an die Uni, um all die Daten auszuwerten – und letztlich die Frage zu beantworten: Gibt es eine Zukunft für den Fischotter in der Schweiz?

Ein paar Anhaltspunkte hat Weinberger jetzt schon. So sind ihr in der Steiermark die vielen Asthaufen in Ufernähe aufgefallen, die den Ottern als bevorzugte Verstecke dienen. Ein Student hat dazu in der Schweiz einen Vergleich angestellt – mit einem überraschenden Resultat: «Es hat bei uns mindestens so viele Asthaufen.» Solche Resultate und auch die Tatsache, dass die österreichischen Otter in einem dicht besiedelten Gebiet leben, stimmen Weinberger optimistisch: «Wenn Sie mich fragen», sagt die Biologin, «der Fischotter hat sehr wohl Platz in der Schweiz.»

(Erschienen in der SonntagsZeitung vom 7.10.12) 

 

Stabiles Hoch am falschen Ort

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Die Wetterlage, die uns 2013 frustriert, brachte uns 2003 den Hitzesommer

Von Nik Walter

Das scheinbar schon ewig anhaltende miese Wetter hängt nicht nur notorischen Nörglern zum Hals heraus. Auch Fachleute haben mittlerweile die Nase voll von der kühlen Nässe und dem ständig bedeckten Himmel. «Das Hauptproblem ist, dass es schon seit Anfang Jahr so übel ist», sagt der Meteorologe Felix Blumer von SRF Meteo.

In der Tat: Seit mindestens 30 Jahren hat sich die Sonne in den ersten fünf Monaten eines Jahres nie mehr so wenig gezeigt wie 2013. In Basel zum Beispiel schien die Sonne gemäss Angaben von SRF Meteo von Anfang Januar bis heute gerade mal 321 Stunden – das ist etwa halb so viel wie im Durchschnitt der letzten 30 Jahre. «Die Leute leiden an der Sonnenlosigkeit», sagt auch Stephan Bader, Klimatologe bei Meteo Schweiz. Höchstwahrscheinlich wird 2013 als das Jahr mit der geringsten Sonnenscheindauer in die Annalen eingehen.

Die fehlende Sonne ist aber der einzige Wetterfaktor, der dieses Jahr deutlich von der Norm abweicht. Die Niederschlagsmengen bewegen sich im normalen Bereich. «Es regnete häufig, aber nicht die grossen Mengen», sagt Bader. Ähnliches gilt für die Temperatur: Diese ist im Mai zwar 1,7 Grad tiefer ausgefallen als im Schnitt der letzten 30 Jahre, dramatisch ist diese Abweichung aber nicht. Warum die meisten Menschen den Mai trotzdem als kalt wahrgenommen haben, liegt laut Bader an den warmen und schönen Lenzen der jüngsten Vergangenheit: «Wir wurden in den letzten Jahren im Frühling von der Klimaerwärmung verwöhnt.»

Nicht so 2013. Das heisst aber nicht, dass am Klimawandel nichts dran ist. Der kalt-feuchte Frühling passe bestens in die natürliche Variabilität des Wettergeschehens, sagen Stephan Bader und der Klimaphysiker Reto Knutti von der ETH Zürich unisono. «Eine fürs Klima relevante Periode dauert 30 Jahre.»

Allenfalls haben – paradoxerweise – die kälteren Winter etwas mit der Klimaerwärmung zu tun. Diese Hypothese stellten vor zwei Jahren deutsche Klimaforscher auf. Demnach soll das Abschmelzen des Polareises zu einer Veränderung der nordatlantischen Zirkulation führen und damit zu mehr zu uns strömender Kaltluft. Reto Knutti hält indes wenig von dieser These: «Fünf kältere Winter bedeuten nichts.» Eigene Experimente hätten den von den deutschen Forschern postulierten Effekt nicht gefunden.

Bleibt die Frage: Warum ist dieser Frühling so grau und kalt? Die Antwort liefert die Meteorologie – und nicht die Klimaforschung. Ein blockierendes Hoch über dem Atlantik sei die Ursache, sagt der Meteorologe Thomas Bucheli von SRF Meteo. «Das ist ausserordentlich stabil.» Am Ostrand dieses Tiefs wird immer wieder kalte Polarluft gegen Mitteleuropa geführt. Dies bringt uns Regen, Schnee und Kälte.

Das stabile Atlantikhoch beschreibt laut Bucheli eine sogenannte Omega-Lage (siehe Grafik oben, Omega-Form). Ein Warmlufttropfen stösst dabei bei Island in polare Gebiete vor. Ein zweites stabiles Omega-Hoch macht sich über Russland und Nordskandinavien breit. Und genau zwischen den beiden Hochs stösst der Kaltluftpfropfen weit in den Süden, bis hin zu uns. Übrigens: Eine ähnliche Omega-Lage bescherte uns den Hitzesommer 2003 – damals lag das Hoch aber über Europa.

Dieser Frühling bleibt wohl eine Ausnahme. Bucheli glaubt nicht, dass wir künftig öfter über so lange Zeit mit nass-kalter Witterung rechnen müssen. «Die Atmosphäre ist nichts Fixes.»

Völlig unbekannt sind Kälteeinbrüche Ende Mai indes auch nicht. Ältere Semester mögen sich vielleicht an 1962 erinnern. Am 1. Juni war es damals ungewöhnlich kalt, es schneite bis ins Flachland. Aber so weit muss es in den nächsten Tagen ja nicht kommen.

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 16.5.13

Methangas statt Fischmehl

Fischfarmen setzen auf neue Fütterungskonzepte und Anlagen – damit die Zucht ökologischer wird

© Erling Svensen / WWF-Canon

© Erling Svensen / WWF-Canon

Von Nik Walter

Kann das schmecken? Ein Lachs, der mit Holzschnitzeln oder Methangas gefüttert wird; Kopfsalat, der auf einer Fischkotbrühe wächst; oder Meerbrassen, die mit Schlachtabfällen gemästet werden? Manche mögen da die Nase rümpfen. Doch schon bald könnten solche Praktiken im Zentrum einer ökologischen und nachhaltigen Fischzucht stehen.

In Zeiten, in denen wegen notorisch überfischter Meere die Quoten des Fangs aus den Ozeanen bei rund 90 Millionen Tonnen pro Jahr stagnieren oder gar zurückgehen, sind Alternativen gefragt. Kein Wunder, boomt weltweit die Aquakultur, also die Zucht von Fischen, Muscheln, Crevetten, Algen und vielem mehr, was in Ozeanen, Flüssen und Seen lebt. Die jährliche Zuwachsrate beträgt seit Jahrzehnten rund sieben Prozent. Heute stammt jeder zweite Fisch, der auf einem Teller landet, aus einer Zucht.

Und der Bedarf wird weiter steigen. Denn Fisch gilt nicht zuletzt wegen des teils hohen Gehalts an Omega-3-Fettsäuren als gesund. Zudem müssen künftig gegen neun Milliarden Menschen ernährt werden. Schon heute ist die Aquakultur derjenige Sektor der Nahrungsmittelproduktion, der am schnellsten wächst, und er wird dies auch künftig tun, darüber sind sich die Experten einig.

Denn die Fischzucht schneidet im Vergleich zur Geflügel- oder Schweinemast ökologisch besser ab. Für die Produktion von einem Kilo Fisch brauche man etwa ein Kilo Futter, sagte der Fischereiexperte Jeffrey Silverstein vom US-Landwirtschaftsministerium im Februar an der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science (AAAS) in Boston. Für ein Kilo Poulet braucht es das Doppelte und für ein Kilo Schweinefleisch sogar mehr als drei Kilo Futter.

Norwegische Lachsfarmen hatten einen miserablen Ruf

Auch bei der CO2-Bilanz schneidet Fisch gut ab. Seine Mast verbraucht in etwa gleich viel Kohlendioxid-Äquivalente wie die Geflügelproduktion, aber nur halb so viel wie die Schweine- oder gar nur ein Zehntel der Rindermast.

Als die kommerzielle Fischzucht Anfang der 1980er-Jahre zu boomen begann, hatte sie schnell einen schlechten Ruf. So wurden damals ganze Fjorde an der norwegischen Küste mit Lachsfarmen zugepflastert. «Mit verheerenden Folgen für die Umwelt», wie der Aquakulturexperte Andreas Stamer vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (Fibl) in Frick weiss. Zu den Problemen zählen: Verschmutzung der umliegenden Ökosysteme mit Exkrementen und Futterabfällen, Kontamination mit Antibiotika, Überfischung der Meere als Quelle für Fischmehl für Zuchtfische sowie die Übertragung von Krankheiten und Parasiten auf wild lebende Fischpopulationen.

Das muss alles nicht sein. Denn Lachse und andere Fische kann man mittlerweile auch nachhaltig und umweltschonend züchten, wie jüngste Entwicklungen zeigen. So produziert die Firma Valperca im Wallis seit rund drei Jahren erfolgreich und nachhaltig Egli; in Kanada und anderswo werden erste in sich abgeschlossene Kreislaufanlagen für die Lachszucht gebaut, und in Norwegen tüfteln Forscher an unproblematischen Futterquellen wie Hefe, Bakterien oder Algen.

Fortschritte hin zu einer nachhaltigen Aquakultur gibt es vor allem auf zwei Ebenen: bei den Zuchtanlagen und bei der Zusammensetzung des Fischfutters.

Noch Anfang der 1990er-Jahre bestand kommerziell eingesetztes Fischfutter in erster Linie aus Fischmehl und Fischöl. Es wird aus nicht als Speisefische brauchbaren Wildfängen produziert. In den letzten 20 Jahren ist der Anteil von Fischmehl und Fischöl im Fischfutter aber deutlich zurückgegangen. In Lachsfutter etwa hat es heute nur noch gut 15 Prozent Fischmehl und 10 Prozent Fischöl, Tendenz weiter sinkend.

Ersetzt wurden Fischmehl und Fischöl vor allem durch pflanzliche Eiweisse und Öle wie etwa Soja, Weizen, Raps oder Kartoffeln. Das hat aber zu neuen Problemen geführt. Zum einen fressen die Fische auf diese Weise Nahrung, die der Mensch direkt verzehren könnte. Zum anderen sind die pflanzlichen Öle nicht gleich gesund wie die Omega-3-Fettsäuren im Fischöl. Zudem besitzen Pflanzen sogenannte Antinährstoffe, die bei Fischen zum Beispiel schwere Darmentzündungen auslösen können.

Futter aus Mikroben verhindert Darmentzündungen

Die Zukunft bei der Fischfütterung gehört deshalb nicht den Pflanzen, sondern den Mikroorganismen. «Einzellige Organismen sind vielversprechend», sagt Andreas Stamer, der selber ein Fischfutter auf Fliegenlarvenbasis entwickelt. Denn Hefe oder Einzeller könne man hygienisch und einfach herstellen – und erst noch, ohne dabei die menschliche Nahrungskette zu konkurrenzieren.

Wie Mikroorganismen künftig im Fischfutter landen könnten, weiss die Ernährungswissenschaftlerin Margareth Øverland. Sie experimentiert an der norwegischen Universität für Lebenswissenschaften mit Bakterien, die Methangas «fressen», mit Hefezellen, die auf Holzschnitzeln wachsen, und mit Mikroalgen, die mithilfe von Sonnenlicht und CO2 gedeihen (und Omega-3-Fettsäuren produzieren).

«Das ist die Zukunft», sagte Øverland an der AAAS-Tagung. Sie konnte bereits zeigen, dass Futter aus Mikroben – anders als pflanzliche Nahrung – keine Darmentzündungen auslöst. Zudem scheint Bakterienfutter, zumindest bei Hühnern und Schweinen, die Fleischqualität zu verbessern. «Die Mikroben sind für die Fische eine Art probiotisches Joghurt», sagte sie. In etwa vier Jahren, hofft Øverland, kann man mit Methangas gezüchtete Bakterien industriell produzieren.

Auch bei den Fischzuchtanlagen tut sich einiges. Vier Konzepte stechen dabei heraus:

→ Immer populärer werden Kreislaufanlagen. Diese in sich geschlossenen Systeme können dort gebaut werden, wo es eine Nachfrage nach Fisch gibt, also nahe beim Konsumenten. Wegen der genau kontrollierten Wasserqualität kann in der Regel auf Antibiotika und andere Medikamente verzichtet werden. Nachteil: Kreislaufanlagen brauchen relativ viel Energie und rentieren daher bislang nur in seltenen Fällen.

→ Sogenannte aquaponische Systeme verbinden Fischzucht mit Gemüse- oder Salatanbau. Aquaponische Systeme können nahe beim Konsumenten gebaut werden. Nachteil: relativ grosser Landbedarf.

→ Bei einer «integrierten multitrophischen Aquakultur» werden mit den Abfällen aus der Fischzucht andere Organismen gefüttert, etwa Muscheln und Algen. Diese Systeme sind auf eine Strömung angewiesen.

→ Unternehmen wie Ocean Farm Technologies testen kugelförmige Grosskäfige, in denen sie im offenen Meer Speisefische züchten wollen. Die Fütterung ist automatisiert. Die gezüchteten Fische sollen gesünder sein und schneller wachsen. Technologie und Betrieb sind aber teuer.

Zudem haben die Anlagen im Meer einen weiteren Nachteil: Sie sind Naturgefahren weit stärker ausgesetzt als etwa Kreislaufanlagen an Land. Immerhin: Ein Testkäfig von Ocean Farm Technologies vor der Küste Puerto Ricos hat bereits einen Hurrikan problemlos überlebt.

Weniger Glück hatte eine biologische Lachsfarm vor der Küste Nordirlands. Im November 2007 machten sich Milliarden von Feuerquallen – ein roter Teppich auf dem Meer – über die Lachszucht her und töteten mit ihrem Gift alle über 100 000 Fische im Wert von rund zwei Millionen Franken. Besonders bitter: Das Weihnachtsgeschäft stand unmittelbar bevor, und die Lachse waren alle schlachtreif.

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 12. Mai 2013 

 

The Geometry of Life

My essay on the Fibonacci numbers published in the «Washington Post»​

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By Nik Walter

As a boy I loved geography. I spent countless hours under a dim light bent over unfolded maps from all over my native Switzerland. I knew every valley, every mountain and every town. I was determined to become a cartographer, until my high school mathematics teacher forever changed that plan.

Not that he lessened my love for maps. But he aroused my curiosity for the obscure world of numbers and equations. With his help, I started to recognize that abstract mathematical figures can have an inherent beauty. More important, I realized that mathematical beauty exists not only in mere numbers--it is also an intrinsic feature of the living world. It was hard for me to grasp at that time--and somehow still is today--that the structures of plants and animals alike seem to obey mathematical laws. Yet, when I was about 16, one such law, the "numbers of life" or Fibonacci sequence, awakened my interest in biology--an interest that carried me all the way through a Ph.D. in molecular genetics.

The pattern of the "numbers of life" is elegantly simple. In the Fibonacci sequence, every number (after the first two) is the sum of the two preceding numbers: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144, 233, 377, 610, and so on. This looks like a simple pattern, yet it determines the shape of a mollusk's shell and a parrot's beak, or the sprouting of leaves from the stem of any plant--a revelation as surprising to me, at 16, as it probably was to Leonardo Pisano--later known as Fibonacci--almost 800 years ago. Pisano, the first great mathematician of medieval Europe, discovered these magical numbers by analyzing the birth rate of rabbits.

He wrote in the Book of the Abacus, in 1202: "Someone placed a pair of rabbits in a certain place, enclosed on all sides by a wall, to find out how many pairs will be born in the course of one year, it being assumed that every month a pair of rabbits produces another pair, and that rabbits begin to bear young two months after their own birth." When Fibonacci checked after one month, he found one adult pair and one juvenile pair. After two months, the count was one adult pair (the original) and two juvenile pairs. After three months, there were two adult pairs and three juvenile pairs. One month later, the count was three and five, then five and eight, eight and 13, 13 and 21, and so forth. Rabbits helped Fibonacci to discover one of the great marvels of nature.

It wouldn't be a marvel, though, if these numbers were found only in the growth of a rabbit population. Interestingly enough, the "numbers of life" appear throughout biology. Botany offers countless examples. The leaves of many plant species sprout in well-defined geometrical arrays spirally from the stem. In willows, roses, and many other plants, consecutive leaves follow each other by an average angle of 144*. Therefore, five leaves account for 720* or two complete circles. In other words, the periodicity consists of two windings and five leaves. Other plants show widely varying periodicities that are nevertheless consistent with the numbers of life. In cabbage, asters or hawkweeds, for example, eight leaves complete a period after three circles. In the cones of spruce and fir trees, 21 scales turn eight times for one period. The cones of pines, in contrast, use 34 scales in 13 windings.

Yet, Fibonacci numbers appear not only in the leaves and cones of plants, but also in flower blossoms. Pick some random flowers and count their colored petals. On average, daisies will have 21, 34, 55 or 89 petals, chrysanthemums 21, and some senecio species either 13 or 21 petals. Although exceptions to the Fibonacci rule are not difficult to find, the "numbers of life" occur so frequently in nature that they cannot be explained by chance. There must be a general law of symmetry, aesthetics and beauty.

In fact, such a law seems to govern the Fibonacci numbers. The ratio between one number and its predecessor in the series approaches 1.6180 as the numbers increase (5/3=1.667, 8/5=1.600, 13/8=1.625, 21/13=1.615, 34/21=1.619, 55/34=1.618). This magical ratio turns out to be a universal measure of beauty, which the Greeks called the "golden section" or "divine proportion." Most of the ancient Greek temples, including the Parthenon in Athens, obey this law of divine proportion. They are exactly 1.618 times as long as they are wide. Long before the Greeks, the ancient Egyptians had already built the pyramids along the same rules. A pyramid's base length is 1.618 times its height. And many artists, too, including Leonardo da Vinci, have used the divine proportion to structure their paintings and sculptures.

Returning to the living world, let's go one step further. Draw a "golden" rectangle with a width-length ratio of 1.6180. Then, draw a square in one end of this rectangle and you end up with a smaller golden rectangle in the space left. Next, place a square into that smaller rectangle, following the same rules, and you produce yet another, smaller golden rectangle. Theoretically, this can be done infinitely. After you've nested about ten rectangles within the original rectangle, try drawing a curved line connecting the centers of all the squares. You'll be surprised to find that the line forms a perfect spiral.

This "golden spiral" defines the shapes and structures of many features of living organisms. The claws of a lion, the horns of a ram, the tusks of an elephant, the beak of a parrot and the shell of a snail all obey the rules of the golden spiral. Such perfect shapes appeal to us through an irresistible combination of order and beauty. Yet, the golden spiral appears unexpectedly in many non-living things, too--in the shape of a breaking wave or the structure of a galaxy, for example.

This enmeshing of mathematical laws and the natural world awakened my love for biology and shaped my scientific career. After graduating from high school, pondering whether to enroll in geography--my old love for maps had not vanished--or biology classes at the university, I chose biology rather spontaneously on the last day of enrollment.

Throughout the time I spent at the university, the "numbers of life" accompanied my scientific career. For example, I remember very well one field trip to Marettimo, a small Mediterranean island west of Sicily. A group of about 25 undergraduate students, we set out to Marettimo in spring 1984 to learn about the local flora. On our daily hikes across the rugged island, we detected all kinds of gorses, ericas, holm-oaks and orchids, as well as many other wonderful plants. But the most memorable experience was when I realized how many different blossoms have either 5, thirteen or twenty-one petals, all of them "numbers of life."

Later, during my graduate studies in molecular genetics, I had another encounter with the Fibonacci sequence. Trying to find out more about the molecular mechanism of how the nervous system forms during the development of an organism, I chose the tiny fruit fly Drosophila melanogaster as my object of study. Looking at anesthesized fruit flies under a stereo-microscope, I always admired their perfect shape. One day, I realized why fruit flies look so beautiful. In fact, the segmentation of their bodies matches the law of beauty: A fruit fly has two or three head segments (hardly visible), three thoracic segments (where the legs and wings are attached) and eight abdominal segments (with no legs), all of them Fibonacci numbers. That makes 13 segments in total, just another "number of life."

Aware of this universal law of beauty, I have tried since high school to find the Fibonacci numbers wherever they might be hidden--in cones, blossoms, or even in fruit flies. And I always think, with a little smile, what an irony it actually is, that I had been imprinted by my high school math teacher to delve into the biology of beauty and the mathematics of aesthetics.

published in Science Notes Winter 1994 / Washington Post, Feb 8, 1995

Schwelbrand im Hirn

Chronische Entzündungen spielen bei Alzheimer eine zentrale Rolle. Rheuma- und Diabetesmittel können den geistigen Verfall womöglich bremsen

via UZH

via UZH

Von Nik Walter

Sie sind so etwas wie das Markenzeichen einer Alzheimererkrankung: die Ablagerungen von Beta-Amyloid-Eiweissen (Aß) im Gehirn, die sogenannten Plaques. Diese Verklumpungen, so die gängige Lehrmeinung, zerstören die Gehirnzellen und führen über Jahre oder Jahrzehnte unweigerlich in die Demenz. Gehirne verstorbener Alzheimerpatienten sind voll mit diesen Plaques.

So erstaunt es nicht, dass Forscher weltweit in den letzten Jahren riesige Anstrengungen unternommen haben, die Aß-Eiweisse aus dem Verkehr zu ziehen. Doch mit dieser Strategie ist ein klinischer Versuch nach dem anderen grandios gescheitert, zuletzt vergangenen Sommer zwei hoffnungsvolle klinische Grossstudien der Pharmafirmen Johnson & Johnson, Pfizer und Eli Lilly. Es herrscht grosse Ernüchterung.

Was lief falsch? Eine definitive Antwort kennen die Forscher noch nicht, doch es mehren sich die Hinweise darauf, dass Aß möglicherweise nicht der grosse Übeltäter ist, sondern bei den meisten Alzheimererkrankungen eher ein Mitläufer. «Aß-Ablagerungen sind eher eine Konsequenz einer stark beschädigten Zelle», sagt die Alzheimerforscherin Irene Knüsel von der Universität Zürich. Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, dass man das falsche Ziel ins Visier genommen hat.

Erste Zweifel an der Aß-These lieferte vor gut zehn Jahren die sogenannte Nonnenstudie. Ein Team um den Epidemiologen David Snowdon untersuchte über Jahre die Lebensgeschichte und geistigen Fähigkeiten von rund 600 älteren katholischen Ordensschwestern. Nach deren Tod analysierten die Forscher das Gehirn der Frauen. Dabei zeigte sich Erstaunliches: Im Gehirn einiger dementer Nonnen fanden die Forscher kaum Plaques. Umgekehrt waren Gehirne anderer Schwestern voll mit Plaques (und Tau-Fibrillen, einer anderen Form von Alzheimer-typischen Ablagerungen), obwohl die Frauen bis zum Ableben geistig völlig fit waren.

Trotz vieler Plaques im Gehirn geistig fit bis zum Tod

Da stellt sich die Frage: Was schützte diese Nonnen (und andere Menschen) vor dem geistigen Verfall? Das wollte ein Forscherteam des Massachusetts General Hospital in Boston herausfinden. Dazu analysierten sie die Gehirne von 46 Verstorbenen. Ein Drittel von ihnen litt an Alzheimer und zeigte im Gehirn die entsprechenden krankhaften Veränderungen. Ein zweites Drittel war geistig gesund und hatte keine Plaques im Gehirn. Die dritte Gruppe hingegen hatte zwar viele Plaques und Tau-Fibrillen im Gehirn, blieb aber bis zum Tod geistig fit.

Die Hirne dieser dritten Gruppe nahmen die Forscher um Beatriz Perez-Nievas Gomez und Teresa Gomez-Isla genauer unter die Lupe, wie sie kürzlich auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience in New Orleans berichteten. Und sie entdeckten tatsächlich einen wesentlichen Unterschied: Gewisse Zellen des Immunsystems, die Mikroglia, fehlten in den Gehirnen der geistig Fitten. Im Gegensatz dazu waren die Mikroglia in den Gehirnen von Dementen mit vielen Plaques prominent vertreten.

Das Fehlen der Mikroglia könnte also der Schlüssel sein bei der Frage, was die Nonnen trotz Plaques vor dem Absturz in die Demenz bewahrte. Dazu muss man wissen: Mikroglia sind das Anzeichen eines Entzündungsprozesses. Je mehr dieser Zellen aktiv sind, desto stärker die Entzündung im Gehirn. Da kommt unweigerlich der Gedanke auf: Ist Alzheimer womöglich eine entzündliche Erkrankung, der geistige Zerfall die Folge einer chronischen Gehirnentzündung?

Die These ist gewagt, aber sie wird unter Alzheimerforschern zusehends ernst genommen. Mittlerweile gibt es etliche Beobachtungsstudien, die einen Zusammenhang zwischen chronischen Entzündungen und dem Auftreten von Alzheimer nahelegen. So ist das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, erhöht, wenn jemand im Lauf des Lebens schwere Kopfverletzungen oder einen Schlaganfall erleidet, an Diabetes erkrankt, zu hohen Blutdruck hat oder übergewichtig ist. All diese Leiden gehen einher mit einer chronischen Entzündungsreaktion im Körper.

Umgekehrt erkranken Rheumapatienten, die regelmässig entzündungshemmende Medikamente wie Ibuprofen schlucken, deutlich seltener an Alzheimer.

Das wiederum provoziert die Frage: Könnten entzündungshemmende Medikamente gar zur Alzheimerprävention taugen? «Ja», sagen Forscherinnen wie Sue Griffin von der University of Arkansas, Begründerin und «alte Dame» der Entzündungsthese bei Alzheimer, oder Beatriz Perez-Nievas Gomez aus Boston.

Die Sache ist indes wohl nicht so einfach. Denn vor wenigen Jahren musste eine Alzheimerpräventionsstudie mit zwei Entzündungshemmern wegen Sicherheitsbedenken abgebrochen werden. Eine nachträgliche Analyse der Daten ergab ein gemischtes Bild. Bei Patienten, die schon erste Anzeichen von Demenz zeigten, verschlechterten die Entzündungshemmer den Krankheitsverlauf. Bei geistig fitten Probanden hingegen schienen die Mittel tatsächlich vor einer Demenz zu schützen. «Es kommt anscheinend sehr darauf an, wann man beginnt, die Entzündungshemmer zu schlucken», sagte die Neurowissenschaftlerin Donna Wilcock von der University of Lexington an der Neuroscience-Tagung.

Operationen können den geistigen Abbau beschleunigen

Noch sind die klinischen Daten zur Rolle von Entzündungshemmern bei der Alzheimerprävention eher spärlich. Es ist daher noch nicht definitiv geklärt, ob, wie und zu welchem Zeitpunkt diese Medikamente Menschen vor Alzheimer schützen. Dafür mehren sich die (tier)experimentellen Erkenntnisse zur Rolle der Entzündungen bei Alzheimer:

→ Werden Mäuse als Föten und später im Leben mit Substanzen behandelt, die eine chronische Infektion simulieren, entwickeln diese Mäuse eine alzheimerähnliche Erkrankung. Das vermeldete ein Team um die Zürcher Neurobiologin Irene Knüsel vergangenen Sommer im Fachblatt «Journal of Neuroinflammation».

→ Ein internationales Forscherteam um Kári Stefánsson von der isländischen Firma Decode Genetics hat kürzlich eine neue Genvariante entdeckt, die zwar selten ist, aber das Alzheimerrisiko deutlich erhöht. Das betroffene Gen TREM2 codiert die Bauanleitung für ein Eiweiss, das auf Mikrogliazellen aktiv ist und damit bei Gehirnentzündungen an vorderster Front beteiligt ist.

→ Ältere Menschen leiden nach einer Operation oft an einem «postoperativen geistigen Abbau». US-Forscher konnten nun in Mäuseexperimenten zeigen, dass nicht die Narkose (wie bislang vermutet), sondern die Operation selber den geistigen Abbau beschleunigt. Und zwar, indem sie eine Entzündungsreaktion im Gehirn auslöst, wie die Forscher im September im Fachblatt «Annals of Surgery» berichteten.

→ Ein Team von Zürcher und Berliner Forschern konnte zeigen, dass die beiden Entzündungsbotenstoffe IL-12 und IL-23 an der Entstehung von Alzheimer beteiligt sind. Schalteten die Forscher die beiden Botenstoffe in Mäusen aus, hatten die Nager weniger A ß in ihrem Gehirn und bauten geistig weniger ab. «Jetzt müsste man einen klinischen Versuch planen», sagt Teamleader Burkhard Becher vom Institut für experimentelle Immunologie an der Universität Zürich. Denn es gibt bereits ein Medikament auf dem Markt (Stelara, Janssen-Cilag), das genau diese beiden Botenstoffe aus dem Verkehr ziehen kann.

Die Versuche sind «absolut lohnenswert»

Doch nicht nur moderne Entzündungshemmer wie Stelara oder klassische wie Ibuprofen oder Naproxen stehen derzeit im Fokus der Alzheimerforschung, sondern auch Diabetesmedikamente. Aus Tierversuchen weiss man, dass die sogenannten GLP-1-Analoga sowohl entzündungshemmend wirken, als auch die Aß-Eiweissablagerungen vermindern und den geistigen Zerfall bremsen können.

In den USA läuft seit zwei Jahren ein erster klinischer Versuch, bei dem Alzheimerpatienten im Frühstadium zweimal täglich mit Exenatid behandelt werden. Die Forscher wollen dabei herausfinden, ob die Einnahme des Medikaments den Verlauf der Demenzerkrankung bremsen kann. Einen ähnlichen Versuch plant Christian Hölscher von der University of Ulster in Grossbritannien. Der Neuroforscher will ab nächstem Jahr 200 Patienten während 12 Monaten mit Liraglutid, einem anderen GLP-1-Analog, behandeln. «Wir sind sehr hoffnungsvoll», sagte Hölscher an der Neuroscience-Konferenz.

Die Hoffnung gilt derweil nicht nur für die Versuche mit den GLP-1-Analoga. Generell steigt die Zuversicht, dass die Bekämpfung der Entzündungsprozesse im Gehirn tatsächlich etwas bringt für die Alzheimertherapie. Der Zürcher Immunologe Burkhard Becher zum Beispiel hält solche Versuche für «aussichtsreich und absolut lohnenswert». «Das ist einer der wenigen Punkte, wo wir intervenieren können. Ich wüsste aktuell nichts Besseres.»

Box: Chronische Entzündung am Anfang von Alzheimer

In den letzten 20 Jahren stand in der Alzheimer-Forschung vor allem eine These im Vordergrund: die Amyloid-Kaskade. Demnach führt die übermässige Produktion von A-beta-Eiweissen (A ß) aus dem Vorläufer-Eiweiss APP zu toxischen Ablagerungen (Plaques) und zum Absterben von Nervenzellen im Gehirn. Allerdings lassen Ungereimtheiten Zweifel an dieser These aufkommen (siehe Haupttext): So gibt es Menschen, die trotz vieler Plaques im Gehirn geistig völlig fit sind.

Die Amyloid-Kaskaden-These, folgert Irene Knüsel von der Uni Zürich nun im Fachblatt «Nature Reviews Neurology», stimme möglicherweise nur für die erblich bedingten (schon ab dem 30. Lebensjahr auftretenden) Alzheimerfälle, nicht aber für die viel häufigeren, «sporadischen» Erkrankungen im Seniorenalter. Für Letztere gelte ein anderer Mechanismus, der zwar auch mit den Aß-Plaques ende; am Anfang des Nervenzellsterbens stehe aber eine chronische Entzündung. 

Laut Knüsel und ihrem Mitarbeiter Dimitrije Krstic sieht das Fortschreiten der Erkrankung in etwa so aus (s. Grafik): Eine chronische Entzündung (1) – zum Beispiel ausgelöst durch Diabetes, Übergewicht, eine Depression oder Parodontitis – führt dazu, dass das Eiweiss Tau verändert wird (phosphoryliert, pTau) und in der Folge Eiweisse in den Kabeln der Nervenzellen (Axone) nicht mehr richtig abgebaut und entsorgt werden (2). Die chronische Entzündung aktiviert zudem Immunzellen, sogenannte Mikroglia, welche die Entzündung verstärken. In der Folge verstopft das Axon mit Eiweissfragmenten, APP häuft sich an, es bilden sich Ausstülpungen, das Axon beginnt zu lecken, die Reizleitung wird unterbrochen, die Synapsen (Nervenverbindungen) verkümmern, und die Zelle stirbt ab (3). Zurück bleiben die senilen Plaques, voll mit Aß-, APP- und anderen Eiweissfragmenten sowie die abgestorbenen Nervenzellen voll verklumpter Tau-Fibrillen.

 

aus: SonntagsZeitung vom 9.12.2012